1.

Die „Voyage“ raste gleichförmig der Heimatsonne entgegen. Die alte Ladung war planmäßig gelöscht und die neue übernommen worden. Christian Montier, der 2. Offizier des Kreuzers, lag zufrieden in der Kajüte. Eigentlich haßte er die Routineflüge aber diesmal wartete jemand auf ihn. Nach irdischer Zeitrechnung trennen ihn noch zwei Wochen von seiner jungen Braut, die er unmittelbar nach seiner Ankunft in Marseille heiraten würde. Er hatte Madelaine bei einer Geburtstagsparty zu Ehren ihres Vaters kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als der Bordarzt in seinen Ruheraum stürzte
„Der Kapitän…“, rief er atemlos, „… er stirbt… er will sie sehen, Christian.“

***

„Christian Montier, …“, der Kapitän sprach leise aber gefaßt, „… meine Zeit ist abgelaufen. Ich kann mir nichts schöneres vorstellen, als in Ausübung meines Dienstes von der Lebensbühne abzutreten. Mit diesem Schriftstück ernenne ich sie, Christian Montier, Kraft meines Amtes zum Kommandanten der ‚Voyage‘. …“
„Aber Käpt’n …“, versuchte Montier zu entgegnen. Der Kapitän schnitt ihm mit einer fahrigen Bewegung das Wort ab.
„Montier! Mir bleibt nicht die Zeit für Widersprüche. Sie besitzen das Kapitänspatent seit Jahren und Moreno hatte sie schon lange für diesen Posten ins Auge gefaßt.“
„Der Reeder will mich? Aber das Reglement bestimmt den 1. Offizier zum Nachfolger.!“
„Nein, Montier, …“, der Kapitän klang böse, „an Bord dieses Raumschiffes bestimmt nicht das Reglement was geschieht, sondern der Kapitän, … und das bin ich bis zum letzten Atemzug, klar?“ Er erwartete keine Antwort, denn er fügte schnell hinzu: „Ich übergebe ihnen mit diesem Schriftstück die Kommandogewalt und die Verpflichtung, meinen irdischen Nachlaß zu ordnen. Schwören sie, meinen Befehlen und Wünschen Folge zu leisten?“
„Ich schwöre es bei meinem Leben!“ Christian verfolgte die Entspannung im Gesicht des Kapitäns, der noch flüsternd hinzufügte: „Christian, sie sind das Beste, das der Moreno-Flotte passieren konnte. Sie sind der einzige Kapitän, den die ‚Voyage‘ haben kann.“
Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief der Kapitän ein.
„Ich werde sie nicht enttäuschen! Bei meiner Ehre als Offizier.“ Der neue Kapitän zog die Mütze vom Kopf und erwies dem Toten die Ehrerbietung, die ihm gebührte.
„Er war ein großer in seinem Geschäft. Es dürfte schwer sein, seine Stelle einzunehmen und in seinem Namen auszufüllen.“
Der Bordarzt unterbrach seine Gedanken nur ungern: „Käpt’n, es gibt viel zu tun. Die Vorschrift sieht vor, daß der neue Kapitän allen Offizieren persönlich die Nachricht überbringt.“
„Ja, Monet. Die Vorschriften sind mir durchaus geläufig. Ich hoffe, auch weiterhin auf ihre Treue und Loyalität zählen zu dürfen.“ „Selbstverständlich, Käpt’n!“, der Arzt streckte Christian die Rechte hin, die jener ergriff und lächelnd drückte.

***

Wie zu erwarten gewesen war, fühlte sich der 1. Offizier, Henry Arnoud, übergangen und dies auch noch zu Gunsten eines Jüngeren. Der Zweite hatte das Kapitänspatent zwar ein Jahr länger als er, aber doch damit nicht automatisch das Recht, sich vorzudrängen. Henry war sich nun sicher, daß der Alte nicht mehr voll zurechnungsfähig war. Wer ständig das edle Reglement zitierte, konnte es doch in einer so schwerwiegenden Situation nicht einfach außer Acht lassen. Nein, er mußte intervenieren. Seit Jahren hatte er darauf gewartet, Chef an Bord zu werden. Er würde sich diese vielleicht letzte Chance von keinem nehmen lassen. Niemals!

Alain Chevallier, der Chefmaschinist, sah seine Chance schwinden, noch 2. Offizier zu werden, wie es ihm von Henry versprochen worden war, sobald dieser Kapitän wäre. Der junge Muntier würde ihn sicher nicht einmal in die engere Wahl ziehen. Schließlich hatte er versucht, dessen Verlobte anzubaggern. Mit Montier als Kapitän würde die „Voyage“ ewig fliegen. Aber er, Alain Chevallier, mußte sich von jemandem befehligen lassen, der gerade einmal zwei Jahre älter war. Und das nur, weil Montier seiner wohlhabenden Eltern wegen studieren konnte, während er sich im Schweiße seines Angesichts hocharbeiten mußte. Und nun raubt ihm der Alte den letzten Hoffnungsschimmer, in den Offiziersrang aufzusteigen, indem er einfach das Reglement der Flotte umgeht. Ausgerechnet Montier …

Auf der Brücke herrschte einige Aufregung und Verwirrung. Der neue Kapitän hatte verfügt den Posten Julien Cartiers als technischer Berater und Cheftechniker einzusparen, da es ihm seine umfassende Ausbildung ermögliche, diesen Posten auch selbst zu bekleiden. Julien, auf diese Weise unter die Namenlosen zurückgestoßen, verließ die Brücke wutschnaubend. Hätte der Alte nicht eigenmächtig das Reglement übergangen, wäre er unter Arnoud als Kapitän mindestens Technischer Offizier geworden. Das durfte der Alte nicht tun. Das nicht. Und dann dieser Idiot Montier, dieser Überstudierte.
Er würde mit Arnoud reden, was sich machen ließe, diesen unhaltbaren Zustand wieder ins Lot zu bringen. Arnoud hatte ohnehin schon zur internen Lagebesprechung in seiner Kabine aufgefordert.

„Montier hat das Faß zum Ãœberlaufen gebracht.“ Arnoud kaute wütend auf seinen Lippen. „Es ist anzunehmen, daß er den Alten entweder erpreßt oder das Reglement selbst gebeugt hat, um seinen Machtrausch zu befriedigen.“ Zustimmung umgab ihn, wie wohlige Wärme.
„Montier ist ein Erbschleicher! Und die Tatsache, daß er uns unserer Posten weitgehend enthoben hat, um irgendwelche Namenlose damit zu betrauen, zeigt seine Zielstellung deutlich. Er will uns ausboten.“ In der allgemeinen Zustimmung schwang ein Mißklang.
„Wieso beklagen ausgerechnet sie sich? Haben sie ihren Posten etwa nicht mehr?“ Arnoud drehte sich langsam um. Der Chefnavigator sah ihn fragend an.
„Monsieur Gourmont,“ Arnoud sprach gelassen, „glauben sie etwa, daß ich diesen Posten unter solchen Bedingungen ausüben kann?“ Sein Gegenüber hielt seinem Blick zwar nicht stand, antwortete aber mit einem vernehmlichen Ja und fügte noch hinzu: „Sie können gar nicht anders. Es wäre Meuterei, wenn sie es nicht täten. Außerdem verlieren SIE dabeigar nichts. Im Gegenteil.“ Arnouds Blick hatte sich verdüstert.
„Gourmont, gerade sie nehmen jemanden in Schutz, der dieses Schiff im Handstreich genommen hat und sie verstieß?“
„Ich habe meinen Posten noch, genau wie sie und die meisten hier.“
„Ha, hat er sie etwa mit diesem simplen, alten Trick geködert?“ Zur restlichen Crew gewandt fügte Arnoud noch hinzu: „Hat von ihnen noch jemand Sehnsucht, seinen Posten zu behalten, statt ihn unter meiner Führung zu verbessern… ?“
„Das ist Meuterei… „, sprach Gourmont leise und mehr zu sich selbst.
„Nein, Chefnavigator…“, Arnoud fing die Worte auf, „das ist ausgleichende Gerechtigkeit. Das Reglement wurde umgangen. Eines solchen Verbrechens hätte sich unser Kapitän niemals schuldig gemacht. Wer weiß, auf welche boshafte, verleumderische Art sich Montier diesen Posten erschlichen hat.“ Wieder umflorte ihn Zustimmung
„Der Reeder wollte es schon lange so“, Gourmont gab nicht auf.
Arnoud beendete das Meeting mit einem verbitterten Seitenblick auf Gourmont, noch ohne eine Entscheidung zu fordern die der Zeit vorauseilen würde. Seiner Zeit.
Dennoch hielt er den Chefnavigator am Arm zurück, als dieser den anderen folgen wollte.
„Maurice, mein Freund… Darf ich dich an zwanzigtausen Ecu erinnern?“
„Du Schwein!“ Gourmont verzog das Gesicht, seine Augen wurden schmal. „Laß‘ mich sofort los! Ich verhandele nicht mit Verbrechern und bin auch nicht erpreßbar.“
„Sieh‘ mal…. Ich besitze den Schuldschein. Aber weißt du, ich will dich auch keineswegs beeinflussen, aber… „, der 1. Offizier musterte seinen Gegenüber belustigt. Dessen Augen verengten sich noch mehr: „Was ‚aber‘, Arnoud?“
„Ich will dein Geld doch gar nicht.“
„Ach nein? Dann kann ich ja gehen…“ Gourmont versuchte sich loszureißen.
„Nein, siehst du, ich würde den Schuldschein ja auf der Stelle zerreißen, doch unglücklicherweise habe ich ihn nicht dabei. Er liegt auf meiner Bank in Marseille.“
„Ich bin nicht erpreßbar!“, zischte Gourmont wütend.
„Nein, sicher nicht. Außer mir weiß ja keiner, wie es zu diesen Schulden kam. Nicht wahr, Spielschulden sind Ehrenschulden?“
„Du elender Mistkerl, Arnoud! Was willst du?“
„Du hältst den Mund. Keiner verlangt von dir zu lügen, einfach den Mund halten…“
„Wie komme ich dazu?“
„Du ersparst dir zwanzigtausend Ecu, die ich sonst noch nachverzinsen müßte, falls du verstehst, was ich meine?“ Arnoud grinste teuflisch. „Außerdem, glaubst du, daß deine Familie stolz auf einen verschuldeten Meuterer wäre? Oder Moreno…?
„Laß‘ mich los du Verbrecher!“
Arnoud lockerte den Griff nicht: „Abgemacht?“
Gourmont entwand sich dennoch und verließ den Raum, in dem er Zeuge einer Verschwörung wurde.

Nein er, Maurice Gourmont, war kein Held. Arnoud würde ihn abservieren, ihn unmöglich machen. Er würde nicht einmal mehr einen Job als Straßenkehrer bekommen. Aber wie konnte er einen so noblen und liebenswerten Menschen, wie Montier einfach verraten. Er war so froh gewesen, als er erfuhr, dass Montier neuer Kapitän geworden war.
Doch noch weniger wagte er, sein eigenes Leben auf’s Spiel zu setzen. Arnoud würde es nicht wagen. Nein, er durfte es nicht wagen. Er trat in die Kapitänskabine, um dem Aufgebahrten seine letzte Ehre zu erweisen.
„Oh Kapitän, warum mußten sie ausgerechnet in diesem Falle das Reglement umgehen?“ Gourmont schluchzte fast: „Ja, Arnoud ist ein Egozentriker und bei weitem nicht so fähig wie Montier, aber ließ sich diese Entscheidung nicht bis zur Rückkehr aufschieben? Wissen sie, was sie angerichtet haben? Ich fürchte, sie haben mit ihrer richtigen Wahl eine ganze Menge hervorragender Leute auf dem Gewissen.“
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