1. Kapitel

– Scheiß Wetter!, schimpfend schlug Charlie den verschlissenen Kragen seiner Kutte auf. Die Straße war menschenleer, die flimmerden Reklamen spiegelten sich auf dem Asphalt.
-Total für’n Arsch, die ganze Flimmerei., fluchte er. Wenn er etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann war es der kalte Regen Londons.
– Jetzt ’ne Million und ab nach’m Süden.
-Stellste dir schnieke vor, hm mein Junge?, wisperte eine verschnupfte Fistelstimme hinter ihm.
Charlie drehte sich langsam um.
– Joe, du alte Pistole. Belauschst du immer anderer Leute Selbstgespräche?
– Aber Charlie… Wenn du die ganze Straße dazu einlädst mitzuhören., Joe verzog sein Gesicht zu einem diabolischen Grinsen mit einem nahezu zahnlosen Mund. Er war groß aber spindeldürr. Ein notorisches Windspiel sozusagen. Charlie frotzelte ihn gern damit.
– Na Joe, welcher Wind hat dich diesmal durch die schwedischen Gardinen“ geweht?
– Ach… weißt du Charlie… So ’ne alte Fregatte wollte mir partout nix von ihren Klunkers ablassen., sein Grinsen wurde noch breiter, sodaß seine Ohren in den Mundwinkeln zu verschwinden drohten. – Sie meinte die Kollektion gehöre zusammen, da brachte ich es halt nicht übers Herz ein Einzelstück an mich zu nehmen., Joe legte eine Kunstpause ein: – Ich mußte sie alle nehmen.
Sie lachten lauthals, daß es durch die Straßen widerhallte. Entfernt bellte ein Köter seine Bitte um Ruhe in die Welt.
– Und wie bist du dann im Knast gelandet?, Charlie war neugierig, wie es Joe diesmal wieder geschafft hatte, ein warmes Winterquartier zu finden.
– An der Haustür stand ihr Gatte mit einer Schrotflinte und bat mich in recht rüdem Ton, ihm den Schmuck doch bitte auszuhändigen. Naja, Mackenzies Nummer habe ich ja im Kopf. Ich bat den alten Schnarchsack also, die Polizei rufen zu dürfen, was er mir gnadenlos desorientiert gestattete. Mackenzie kam diesmal sogar selbst. Er meinte mein Jubiläum wolle er sich nicht entgehen lassen. Das 25. Mal., Und wieder brach ein Lachen aus ihnen hervor.
Joe mochte etwa Ende vierzig sein. Sein Aussehen glich den Karikaturen in der Times“.
– Und du mein Junge?, wollte Joe wissen – Was hast du so getrieben?
– Tja, ich war nicht so glücklich dran. Bekam im November vier Wochen und wurde ohne Aklimatisierung in den Winter entlassen. Einfach furchtbar. Bis eben ärgerte ich mich über’s Wetter. Hoffentlich wird’s bald Frühling. Die Touristen bringen die fette Beute… Aber ehrlich, Euro- und Traveller-Schecks sind doch eine saublöde Erfindung, meinst du nicht auch?, Charlie sah Joe grinsend an. Dieser entblößte auch wieder seine letzten gelben Stummel, die recht ungleichmäßig und ungerecht in seiner Kauleiste verteilt waren.
– American Express, der Feind des ehrlichen Ganoven., Joe konnte nicht mehr an sich halten und beide prusteten erneut los.
– Charlie, was du da vorhin sagtest, von wegen die Mäuse und ab in den Süden…
– Ja… was ist damit?
– Meinst du das ernst?
– Klar, warum nicht? Jetzt sind wir mal dran mit Geld ausgeben. Auf nach Spanien, Afrika, Australien…
– Südpol!, ergänzte Joe.
– Was?
– Südpol!, wiederholte sein Gegenüber.
– Wieso Südpol?, Charlie war einigermaßen verwirrt. Was wollte der alte Zausel mit dem dämlichen Südpol?
– Südlicher geht’s nicht.
– War doch ziemlich kalt da oder?
– Ja, ziemlich.
– Mann, bist du gebildet Professorchen.
Joe grinste erneut über dieses Kompliment. Offenbar konnte er dies am besten.
– Wie steht’s nun mit dem Geldverdienen?, fragte er.
– Das schnelle?, Charlie blickte ihn fragend an.
– Klar. Irgendein Laden und hopp, hopp, ab nach Spanien.
– Toll, aber welchen? Den Supermarkt an der Ecke da drüben haben Murmel und seine Gang erst neulich ausgeräumt. Alles Schecks und so. Schmuck geht auch nicht, wer soll den verhökern…, Charlie kratzte sich am Kinn, während Joe ihn belustigt musterte: – ’n großer Laden möchte’s aber schon sein, sonst reicht es nicht mal für die Underground bis zum Flughafen, Geschweige denn bis Spanien…
– Charlie, mein Lieber, du bist jung und unerfahren., das Klappergestell spielte mal wieder Daddy: – Verlaß‘ dich auf den alten Joe, der weiß wie’s läuft. ’s ist gleich zehn, also haben ein paar kleine Läden noch offen. Dort sparen wir uns den Knack und kassieren gleich.
– Ich weiß nicht. Die erkennen einen doch.
– Laß‘ mich nur machen. Im Notfall weiß keiner etwas vom anderen. Nun mein Plan…
So schlenderten sie, bis ihnen ein kleiner Tabakladen auffiel. Joe stieß Charlie in die Seite, sodaß dessen Aufmerksamkeit dahin gelenkt wurde.
Gemächlich und vornübergebeugt betrat Joe den Laden. Er sah so noch älter aus, als er ohnedies war.
– Mann, Papa!, Charlie lief hinter ihm her, innerlich lachend. – Der Arzt hat dir das Rauchen doch verboten.
Er vermied es, den Verkäufer direkt anzusehen, dem das schelmische Blitzen seiner Augen mit Sicherheit aufgefallen wäre. Charlie war noch nie ein besonders guter Schauspieler, aber was tat man nicht alles für das liebe Geld.
Plötzlich knickten Joes Knie ein und er röchelte herzerweichend und vor allem täuschend echt. Nun war sich Charlie nicht ganz sicher, ob es nicht vielleicht doch mit Joe zu Ende ging.
– Papa! Oh… Papa!, Charlie brach regelrecht in Tränen aus und er schrie den Verkäufer an:
– Schnell Chef, einen Arzt, das Herz… oh, …Papa, er stirbt, schnell!, Der angesprochene stürzte direkt ins Hinterzimmer, um alle notwendigen Anrufe zu tätigen.
– So einfach hatte ich mir das gar nicht vorgestellt, Joe., flüsterte Charlie dem plötzlich Genesenen zu, während er die Kasse ausräumte.
Als der Ladenbesitzer wenige Minuten später zurückkam, war er um 15 Pfund ärmer, was Charlie ein paar Ecken weiter bestürzt feststellte.
– Das ist keine Flugreise, Joe…, resignierte er.
– Wohl wahr, also weiter.
– Nee Joe. Das war genug Spaß für eine Nacht. Außerdem ist es zehn durch. Was machen wir jetzt?
– Schlafen geh’n Charlie.
Anschwellendes Sirenengeräusch ließ sie in Laufschritt verfallen. Joe hielt nicht lange mit.
– Mach weiter, …, Charlie, …, verschwinde!
– Und du?
– Nimm meinen Anteil, …, und verschwinde. Ich komm schon durch…!
Charlie rannte los und fast einen Kollegen über den Haufen, der ihm daraufhin ein ziemlich großes Kaliber mit kurzem Lauf unter die Nase hielt.
– Wie wär’s mit ein paar Piepen, hä?, brummte er.
– Aber Kollege, wer wird denn…
– Ich laß mich nicht beleidigen, Du Fatzke…. was heißt hier Kollege? Hä?
– Weil ich gerade einen Laden gekappt habe…
– Also bist du flüssig?
– Halbe, halbe!, bot Charlie an. Der Bursche grinste nur. Dieses Grinsen erschien Charlie aber nur einen Bruchteil so angenehm, wie Joe’s zahnloses.
– Wieviel hast du?
– Zehn Pfund., log Charlie.
– Du Arsch. Einen Laden geweißt und nur zehn Pfund?… Ich nehm‘ auch alles. Also? Her damit!
– Du kannst doch nicht…. Ich habe es verdient… Im Schweiße meiner noch qualmenden Socken…, Sein Widerpart hatte offensichtlich keinen Sinn für britische Traditionen und den dazugehörenden Humor.
– Wieviel?, fragte der kleine Würger und drückte dabei den Colt noch bedrohlicher unter Charlies Kinn.
– Fünfzehn…, gestand Charlie., – wirklich! Mehr war’s nicht.
– Das soll ich glauben?, Charlie deutete ein Nicken an.
– Untersuch mich!
– Quatsch, her damit!, der Kleine fluchte., – Ich muß halt wieder auf die Underground umsteigen.
– Wieso Underground?, Charlie legte zwar keinen gesteigerten Wert auf eine Unterhaltung, war aber doch neugierig.
– Hier oben ist nichts mehr zu holen. Fünfzehn lumpige Pfund. Dafür riskierst du, geschnappt zu werden?, Charlie zuckte die Schultern.
Der Kleine konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
– Armer Irrer. Du bringst es nie zu ‚was. Vergiß den Job. Fünfzehn Pfund. Hast du eine Vorstellung davon, was eine Monatskarte für die Underground kostet?
Charlie stutzte: – Wieso Monatskarte?
– Na hör‘ mal! Schließlich bin ich doch anständig…
Die eben noch bestehende Lebensgefahr vergessend prustete Charlie los. Sein Gegenüber, sich nicht ganz im Klaren, was er eigentlich gesagt hatte, stimmte nachhaltig in das Gelächter ein.

2. Kapitel

– Liebe Trauergemeinde. So übergeben wir hier nun einen Mann in geweihte Erde, der immer nur gutes tat, wo auch immer er auftrat. Gedenken wir seiner in diesen schweren Augenblicken, da er von uns gegangen ist. Gedenken wir seiner Standhaftigkeit gegenüber den Versuchungen des Fleisches.
Wenn er auch niemanden hinterließ, so werden wir doch sein Erbe fortführen, seinen unermüdlichen Kampf gegen Unrecht und Sünde und jede unrechte Tat vor Gott sühnen. Bis in sein zweites Leben in göttlicheren Gefilden folgte ihm die Idee, mit seinem Ableben all jenen zu dienen, die sein Lebenswerk vollenden werden, sein Heim frei von der Versuchung und der Sündhaftigkeit zu halten.
Übergeben wir nun den Körper in die Obhut Gottes. Asche zu Asche, Staub zu Staub, im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen.
– Amen!, hallte es verhalten aus der schwarzen Menge zurück.
Etwas abseits tuschelte ein Pärchen, dem das Ableben eines großen Gönners nicht ganz so nah zu gehen schien.
– Ob der alte Zausel wirklich so asketisch lebte? Was meinst du, William?
– Ich weiß es nicht zu sagen, Beatrice, in diesem gottverdammten Nest nehmen die Leute doch abends die Hütten rein. Wie sollte der Alte hier eine finden? Irgendein schottisches Tatterweibchen?, William mußte über seine Bemerkung selbst schmunzeln.
Beatrice mißfiel dies offenbar:- William, du bist geschmacklos. Das ziemt sich nicht. Wir sind schließlich seine nächsten Bekannten. Als Nachbarn. Oder etwa nicht?
– Du spielst auf das Erbe an?
– Naja. Er konnte doch nichts ausgeben…
– Weißt du Beatrice, der Alte mußte in der Tat ein, verzeih‘ den Ausdruck, reiches Aas gewesen sein. Bis auf ein paar Stiftungen wurde er kein Geld los, lebte zurückgezogen…
– Du meinst also auch… Er vererbt uns was?
– Warum nicht. Er hinterließ doch niemanden, oder?

***

РWerte Anwesende!, hob der Notar an, Рkommen wir nun zur Testamentser̦ffnung unseres teuren Verblichenen, Sir Arthur., Der Notar blickte kurz in die Runde und begann zu lesen, nachdem er das Papier feierlich entfaltet hatte.
– Ich der unterzeichnende Sir Arthur Glenwood George Fearnsworth, Lord of Hingsley und Clayton, bestätige hiermit im Vollbesitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte zu sein.
Zu meinem Leidwesen muß ich gestehen, nicht immer ein sündenfreies Leben geführt zu haben. Leichtsinn meinerseits ließ es zu, daß ich der Versuchung einer jungen schönen Frau erlag, mit der ich einen gemeinsamen Sohn zeugte, Charles., Ein Raunen unverhohlener Überraschung erfüllte den Raum.
Der Notar ließ sich davon nicht beirren: – Seine Mutter hatte, trotz ihres Wissens um meinen Wohlstand nie für sich oder den Jungen Geld erbeten. Meine gesellschaftliche Stellung verbot mir, mich angemessen um meinen Sohn kümmern zu können, was ich heute zutiefst bereue. Obwohl ich annehme, daß mir dieser Sündenfall von Gott nachgesehen wird, kann ich mir meine Schande, nicht zu meiner Liebe und ihrem Lohn gestanden zu haben im nachhinein nicht vergeben.
Ich stehe tief in der Schuld meines Sohnes und seiner verstorbenen Mutter, Gladis Harvet. Sie starb, als der Junge noch nicht einmal 5 Jahre alt war, an einer unheilbaren Krankheit. Somit verlor ich auch den Kontakt zu meinem Sohn.
Ohne anzunehmen, daß irgendwas in der Lage sein wird, dessen erlittene Schmach wettmachen zu können, möchte ich aber wenigstens jetzt alles tun, um ein klein wenig wiedergutzumachen.
Ich, Sir Arthur Glenwood George Fearnsworth, erkläre hiermit meinen Sohn, Charles Harvet, zu meinem alleinigen Erben…,
Der Notar, der letztlich wußte, was noch kommen würde, verursachte an dieser verhängnisvollen Stelle eine Kunstpause, um das Gesagte in seiner ganzen Tragweite erfaßbar zu machen. Er blickte reihum in erbleichte Gesichter. So hatten diese Speichellecker genau das bekommen, was ihnen zustand. Es lebe Sir Arthur! Bevor er weiterlas, mußte er sich sammeln, um sein Schmunzeln nicht an die Oberfläche seiner geschulten Mimik spülen zu lassen.
– Dieser undankbare Egoist!, zischte Beatrice wütend.
Sowohl William als auch der kirchliche Vertreter machten zum Notar hin eine einladende Handbewegung, mit dem Lesen fortzufahren, was dieser dann auch tat:
– …meinem alleinigen Erben des Titels, der Ländereien in Südamerika, Indien Afrika und dem Vereinten Königreich, meines sonstigen Besitzes und Vermögens.
Der mir stets treu beistehenden Kirche überlasse ich eine Million Pfund Sterling zur Rekonstruktion der heiligen Stätten…, Das Gesicht des Paters hellte mit sichtlicher Erleichterung auf.; – und meinen lieben Nachbarn, Lady Beatrice und Sir William Mainlay, hinterlasse ich als Trostpflaster meine Kohlengruben im schottischen Tiefland., Die Gesichter der eben beschenkten leuchteten keineswegs.
– Der alte Schlawiner vermacht uns ein paar ausgekohlte Minen und überläßt uns die Abfindung der Angestellten. Außerdem wird dort seit fast einem ganzen Monat gestreikt., Beatrice war schier außer sich vor Wut.
– Meine liebe Beatrice!, lenkte William ein,: – Offenbar sind wir ihm auf den Wecker gefallen…, William grinste scheinbar grundlos.: – Der Alte war doch nicht so senil, wie du gedacht hast., Er lachte kurz auf.
Der Notar bemühte sich noch einige Male, die letzten Sätze vortragen zu dürfen, erhielt aber dazu keine Gelegenheit mehr, da das Gemurmel schon fast zum Geschrei anschwoll. So klemmte er seine Mappe unter den Arm und verließ den Raum überraschender Verkündungen.
Nun auch für ihn hatte Sir Arthur damals diese Ãœberraschung parat, als er sein Testament diktierte. Der Lord versuchte seit inzwischen zwei Jahren, seinen Sohn ausfindig zu machen. Falls dies nicht gelingen sollte oder sein Sohn vielleicht gar nicht mehr lebte, würde die Erbschaftsangelegenheit eine ganz neue Wendung nehmen. Dies wußte er und wahrscheinlich auch ein großer Teil der Erbschleicher da draußen. Aus diesem Grunde hoffte er inständig, diesen Charles Harvet doch noch zu finden. Das Testament Sir Arthurs enthielt noch einige Spielregeln, wie mit seinem Erben zu verfahren sei, wenn er gefunden würde… Aber dies alles setzte voraus, daß er auffindbar war.
Beatrice schäumte vor Wut: – Wer zum Teufel ist dieser ominöse Charles Harvet und wo steckt er?

3. Kapitel

– Du, Charlie!, Joe stieß den schläfrigen Kumpan an.
– was ist denn los?, maulte der Gerempelte leise, – Laß mich in Ruhe! Ich träume gerade von meiner Million, die ich an der Cote d’Azur verplempere.
– Mann Charlie, du verplemperst gleich etwas ganz anderes…, Joe rempelte gnadenlos weiter und preßte aus dem Mundwinkel das Zauberwort, das Charlie sofort in die Wirklichkeit zurückriß: – Ein Bobby!
Beide nahmen ihre Habseligkeiten auf und tippelten Richtung City. Der Spießgeselle, der Charlie am Vorabend beinahe wegen 15 Pfund ins Jenseits befördert hätte, war vor einiger Zeit mit dem Geld losgezogen, um etwas eßbares zu finden. Seine Suche schien nicht von Erfolg gekrönt, denn sie sahen ihn nie wieder.
– Bei meiner Ganovenehre, wenn der mir noch einmal zwischen die Finger kommt, dann…, dann…, Charlie gestikulierte in den verschiedensten Formen imaginäre Hinrichtungen.
– Dann gibst du ihm wieder unser Geld., setze Joe fort. Sie lachten beide, wenn auch nur, um das stetig anschwellende Magenknurren zu übertönen.
Ein Zeitungsjunge rannte schreiend über die Straße. Er brüllte die geläufigen Schlagzeilen. Eine davon beunruhigte Charlie aber doch: Charles Harvet gesucht.
– Nein, mich können die nicht meinen., Ein 15-Pfund-Bruch ging noch nie durch die Presse, zumindest nicht außerhalb des Sommerlochs auf der ersten Seite. Er verdrehte die Augen. So ein unbeschreiblicher Unsinn. Es mußte hunderte Charles Harvet geben, wieso fühlte er sich dann eigentlich angesprochen. In Gedanken winkte er ab.
– Vielleicht möchte Dir auch nur jemand deine Million schenken…, Joe bleckte seine Stummel zum berühmten Grinsen.
РDu meinst man hat mich erh̦rt? Da oder da?, er wies einmal in Richtung Himmel und danach auf den Boden.
Wieder lachten sie.

***

– Sergeant Bixby!
РJa, Chef?, der Angesprochene sah von seinem nervțtenden Schreibkram auf.
– Haben Sie etwas hinsichtlich der Fahn…, ehm, der Suche nach dem Millionenerben herausfinden können?
– Oh!, Bixby stutzte, – Ist das jetzt Chefsache?
– Ja, eh… nein, eher nein. Egal. Was wissen Sie?
– Nun in unseren Akten allein hier in London sind zwei Charles Harvet registriert. Suchen wir etwa einen von denen?
– Wer weiß…, Mackenzie kratzte sich grübelnd am Kinn.
– Kleine Ganoven, nichts außergewöhnliches. Beide sind im Waisenhaus aufgewachsen und bilderbuchgerecht in die falsche Gesellschaft geraten.
Ladendiebstahl, Landstreicherei, Mundraub. Gangster der alten Schule, keine fuchsteufelswilden Ballerheinis, wie sie unsere Straßen im unsicherer machen. Einer sitzt in unserem örtlichen Gästehaus, der andere ist mal eben auf Knasturlaub.
РKnasturlaub?, der Kommissar sah Bixby verwundert an, zumal er auch nur mit halben Ohr zugeh̦rt hatte.
– Nein, eigentlich ist er auf freiem Fuße. Aber ich nenne das bei den notorischen Knastbrüdern halt so.
Mackenzie mußte auch unwillkürlich schmunzeln. So hatte er es noch gar nicht betrachtet. Auch zu seiner Clientel gehören viele Gewohnheitstäter, die nur entlassen werden, weil eben kein Platz in den Strafvollzugseinrichtungen ist.
Zur Verhaftung dieses Joseph Browning z.B. hatte er sich sogar persönlich aufgemacht, nachdem ihn ebendieser aus dem Hause eines Geschäftsmannes anrief, der offenbar fassungslos daneben gestanden hatte. Zum 25. Mal hatte er, Walter Mackenzie, den Kleptomanen persönlich festgenommen.
– Moment mal!, Mackenzie schlug sich vor die Stirn, – mit diesem Joseph Browning hängt doch auch immer ein Charles… Irgendwer rum. Bixby, prüfen sie den. Oder haben sie ihn in den Akten?
– Das glaube ich schon. Wer mit Joe verkehrt, ist auch bei uns kein unbeschriebenes Blatt. Ich gehe davon aus, daß dies der zweite Charles Harvet aus meinen Unterlagen ist. Seine Mutter starb an Leukämie, als Harvet noch ein Kind war.
– Wie alt ist er?, Mackenzie wurde neugierig.
– Vierunddreißig. Sein Alter paßt auf die testamentarischen Angaben.
– Wie sieht es mit dem zweiten aus?, für den Kommissar stand aber schon fest, daß er heute erheblich mehr Spaß haben würde, als die üblichen Tage…
– Einundsechzig.
– Der dürfte dann wohl ausscheiden… Bixby, nehmen sie sich einen Streifenwagen und schaffen sie mir den Mann ran, aber Bixby…, Er sah den Sergeant mit schelmischem Blitzen in den Augen an.: – Kein Wort zum Delinquenten.
Man verstand sich wortlos.
– OK, Chef, sie sollen ihn haben… Tod oder lebendig!
– Lebendig, lieber Bixby, lebendig.
Schallendes Gelächter durchzog die sonst so heiligen Hallen des Scotland Yard.

***

– Du Joe!
– Hm?
– Wo bekommen wir jetzt irgendwas zu beißen her? Ich habe einen unglaublichen Knast.
– Hör mir vorerst bloß mit Knast auf!, Joe grinste geheimnisvoll.- Ich habe doch noch etwas in der Tasche…
– Das sagst du erst jetzt?, Charlie leckte sich schon die Lippen, als Joe eine wenig nahrhafte Blindenbrille aus seinen zerschlissenen Kleidern zauberte. Er band sich nun das linke Bein rauf und setzte den alten Stab aus dem Handgepäck direkt am Knie an.
– Eine milde Gabe für einen Kriegsversehrten…, Joe sah verteufelt echt und elendig aus. Ein Könner seines Faches eben.
– Du kannst das, Joe. Aber ob es uns satt macht?, Charles verzog etwas ungläubig den Mund: – Die Masche ist ja älter als die Steinzeit.
– Es strengt auf alle Fälle nicht so an wie arbeiten.
So alt wie Joe in diesem Moment aussah, würde er bei seinem Lebenswandel vermutlich nie werden. Dieser Gedanke brachte Charlie zum Lachen während Joe begann, seine Talente an der breiten Masse zu testen.
Binnen zehn Minuten hatte er zwei Hot-Dogs verdient. Die anderen beiden organisierte er während Charlie umständlich bezahlte und den Standbesitzer dabei fast zur Raserei brachte. Nebenbei fielen noch zwei Pfund aus der Kasse selbst ab.
РJoe, du bist ein verkanntes Genie!, frotzelte Charlie mit vollem Munde: РDu geh̦rst ins Theater oder ins Showbusiness.
Showbusiness sprach er bewußt falsch Schoobusinesse aus, was nun seinerseits Joe überdurchschnittlich erheiterte.
– Mit meiner Million kaufe ich dir ein Theater, Joe.
– Das geht pleite, wetten?

Gegen Abend verzogen sie sich in die alten Docks.
– Hier haben die irgendwo ’nen alten Schrottcontainer hingestellt…, Charles blickte sich suchend um, bis sein geschultes Auge das Zielobjekt erfaßte.
Die Verriegelung schnappte zurück und er konnte eine Türhälfte öffnen.
– ’s soll wieder regnen diese Nacht., meinte Joe.
– Ach ja? Woher hast du diese Weisheit, oh gelehrter Joseph?, Charlie grinste müde.
– Olle Jim aus’m Kartäuschen hat’s mir gesagt.
– Und wo weiß der das her?
– Seine Mutter hat wieder so ein Zwicken im Bauch…
– Wird vielleicht wieder Mama…
– Quatsch, die ist zweiundfünfzig.
– Na und?
– Ach, laß ab, das verstehst Du nicht, Charlie. Hau dich aufs Ohr! Aber leise…
Wieder mußten beide glucksend lachen.

4. Kapitel

Frische Morgenluft zog durch die angelehnte Tür herein. Joe erwachte, als er Motorengeräusch wahrnahm. Es klang gefährlich vertraut. Er blinzelte verschlafen aus der Tür und riß die Augen weit auf. Schloß sie und öffnete sie erneut, ohne daß sich an dem ihm dargebotenen Bild etwas änderte.
Sergeant Bixby saß mit einem Fahrer, den er bislang noch nicht kannte, was für gewöhnlich nicht lange so blieb, in einem Streifenwagen und frühstückte in aller Ruhe.
Er drehte sich langsam zu seinem gerade erwachenden Kumpel um und meinte trocken: – Die Bullen sind draußen der Herr, geruht er zu empfangen?
– Wollen die zu uns?
– Schwer zu sagen, Charlie. Bixby frühstückt. Er hat sich gerade ein Ei gepellt…
– Er soll uns gefälligst etwas abgeben, ist fett genug…, Charlie glaubte fest an einen Bluff seinen Begleiters.
Nach einem prüfenden Blick auf den Vorplatz fiel ihm nicht mehr viel ein: – Schade, so lange war ich nun auch wieder nicht draußen. Offenbar werde ich doch gesucht…
Joe steckte den Kopf jetzt sichtbar zur Tür hinaus, stand auf und trat einen Schritt vor das Nachtquartier.
Bixby rief ihn sofort an: – Morgen Joseph. Ist zufällig ein Charles Harvet bei dir?
– Auch ihnen einen Guten Morgen, Sergeant. Warum wollen Sie das denn wissen?
– Ich muß ihn zum Yard bringen. Befehl ist Befehl., Bixby räusperte sich mehrmals, um nicht lauthals loslachen zu müssen.
Joe drehte sich zu Charlie um, der nur resigniert nickte. Dann wandte er sich wieder Bixby zu, der die Reaktion aus dem Inneren des Containers nicht hatte erkennen können.
– Wie geht es denn ihren Kinder?
– Bestens, danke. Willst du mich jetzt vom Thema ablenken.
– I wo, wie käme ich denn dazu… Und wie geht’s der Frau Gemahlin?
– Joe, bitte…
– Bixby, alter Kamerad… Wie geht’s ihrer Frau denn nun? ’s ist doch hoffentlich nichts passiert?
– Nein, Joe. Es ist alles bestens, danke der Nachfrage. Joe, bitte…, schick Charles Harvet raus, wenn er da ist.
– Von mir wollen Sie nichts?
– Nein, Joe, müßte ich?, Bixby griente quer durch seinen aufgedunsenen Gesichtsspeck.
– Ich dachte nur… Vielleicht hat mich ja jemand adoptiert, von dem ich wissen müßte.
Bixby hielt seinen Bauch, dessen Massen langsam in Schwung kamen, während er mit seiner angenehm sonoren Baßstimme eine Lachsalve über die Docks schmetterte. Nachdem er sich beruhigt hatte, entgegnete er: – Wir sehen uns zu angemessener Zeit sicher wieder, du alter Haudegen. Ist denn nun ein Charles Harvet bei dir?
– Na ja…, Joe kratze den Dreitagebart der linken Wange,: – Sie haben Glück… Mister Charles Harvet ist rein zufällig anwesend und gar nicht beschäftigt., In diesem Moment schob der Benannte die Metalltür ganz auf und schritt gemächlich auf den Wagen zu, in dem er die Handgelenke aneinandergelegt nach vorne streckte.
Bixby öffnete die hintere Beifahrertür: – Mister Harvet, ich bin Sergeant Bixby und habe die Aufgabe, sie zum Yard zu geleiten.
– Das haben sie aber schön aufgesagt. Wo bleiben meine Rechte?, Charlie war einigermaßen verwirrt, als er unter Ignorieren seiner eindeutigen Gestik sanft auf den Rücksitz gedrückt wurde.
– Ihre Rechte werden gewahrt bleiben., Bixby kicherte.
– Leute, irgendwas stimmt hier nicht…, und noch bevor die Tür ins Schloß fiel rief er zu Joe gewandt: – Bis bald!
Joe zuckte nur die Schultern, fand keine Antworten auf die sonderbaren Ereignisse. Sicher war er sich nur darin, daß dies keine Festnahme war. Er würde abwarten müssen.
Nun ja, wenigstens der Morgen versprach sonnig zu werden.

***

Der Wagen rollte zielsicher in Richtung Scotland Yard.
– Sie haben mich diesmal aber schnell gefunden., meinte Charlie, nur um überhaupt etwas zu sagen.
– Hmm…, Bixby nickte sichtlich zufrieden und schmunzelte.
– Wer hat mich denn erkannt?
– Niemand. Indizien, Mister Harvet, Indizien., Der Sergeant wollte diesen Landstreicher ein bißchen zappeln und im Ungewissen über sein Schicksal lassen, obwohl ihm klar war, daß Harvet selbst sich für irgendwas schuldig fühlte. Aber das war ihm in seiner Mission vollkommen egal. Heimlich überkam ihn sogar der Gedanke, daß solch ein Millionending immer die falschen trifft. Er schüttelte heftig den Kopf, um seine Gedanken des Neids und der Mißgunst herauszutreiben.
– Sergeant! Haben sie doch Mitleid…, Charlie wollte nun doch nicht ganz kampflos aufgeben.
– Sergeant… wegen ein paar lausigen Pfund bringen sie mich zum Yard?
– Nein und ja.
– Wie bitte?, Charlie war nun vollends desorientiert.
– Nein, es geht nicht um lausige paar Pfund…, Bixby dehnte den Begriff lausig zu einem grausam surrenden Gummiband. – …und ja, ich bringe sie nach Scotland Yard.
– Aber Sergeant…, Charlie wurde mehr als mulmig, – …haben sie ein Herz für einen armen Reisenden, der seinen Hunger irgendwie stillen muß., Er setzte die treuherzigste Mine auf, die er in seinem Grimassenfundus ergattern konnte.
– Seien sie still, Harvet! Es geht hier um…, der Sergeant durfte sich auf keinen Fall verplappern, wollte sich aber auch an der lächerlichen Angst des Landstreichers noch etwas weiden. Nur ein ganz klein wenig. – …um MILLIONEN.
– Mi… Mi… Millionen?, Charlies Gesicht verlor binnen Sekunden alle Farbe. Er schluckte laut. – Millionen,…, Sergeant, wie zum Teufel wird das denn geschrieben? Wie sieht sowas aus?, Ein Hoffnungsschimmer brach sich seinen Weg durch das schwerfällige Unterholz seines Bewußtseins: – Sie verwechseln mich. Ich bin ganz sicher, Sergeant.
– Ich hoffe für sie, daß dies nicht der Fall ist., Bixby blickte aus dem Wagenfenster, um seine verbissen gegen das Lachen ankämpfenden Grimassen vor Charles zu verbergen.
Charles sank resignierend auf den Rücksitz zurück. – Komische Logik…

***

– Chef, der Befohlene ist zu Stelle!
– Toll Sergeant. Das ging ja schnell. Bringen sie ihn rein.
Mit einer gewissen Endgültigkeit schloß sich die Tür hinter Charlie. Er ließ sich langsam auf den wohlvertrauten Stuhl vor dem Schreibtisch sinken.
– Setz‘ dich Charlie… Oh, du sitzt schon, auch gut… So!, wieder diese Endgültigkeit. Charlie haßte diesen Ton.
An Bixby gewandt sagte der Kommissar nur kurz: – Wären sie bitte so nett, meinem Gast und mir eine Tasse Tee oder besser Kaffee zu besorgen?, Der Angesprochene verschwand augenblicklich wieder.
– Name, Vorname, Alter, Beruf, Wohnanschrift…, Mackenzie sah Charlie grinsend an.
– Aber Chef… Es ist alles beim alten geblieben. Sie dürften hinsichtlich des Schreibens meiner Daten doch geübter sein, als ich selbst.
– Bist du da etwa stolz drauf?
– Keineswegs!, beeilte sich Charlie zu versichern. – Sie haben etwas gut bei mir. Sagen wir ich lade sie einmal ins „Tiffany“ ein, wenn ich wieder liquide bin…,
Statt des obligatorischen Abwinkens vernahm er ein bedrohliches „Ich nehme dich beim Wort, Charles.“ Wieder eine dieser Äußerungen, die nicht so recht in sein Weltbild paßten. Unterdessen war er sich gar nicht mal so sicher, heute Morgen überhaupt aufgewacht zu sein. Die Welt geriet aus den Fugen.
– Der Sergeant meinte, es gehe diesmal um Millionen?, Charlie mußte es gelingen, das Gespräch an sich zu bringen. Mit Mackenzie konnte er erheblich besser verhandeln, als mit dem Befehlsempfänger Bixby. – Mister Mackenzie, sie wissen doch, genau wie ich, daß dies nur eine Verwechslung sein kann. Ich und Millionen… Sagen sie doch selbst, das ist doch gar nicht meine Kragenweite.
– Nun, Charles, da magst du Recht haben., Mackenzie sah von seinem Schreibtisch nicht auf, wodurch Charlies mimische Eskapaden unbeachtet und somit wirkungslos verpufften.
– Was ist das alles für ein Papierkram?, Charlie wurde etwas ungeduldig.
– Ich vergleiche Angaben in einer Erbschaftsangelegenheit.
Charlie hielt es nicht mehr auf dem Platz und er begann unruhig auf und ab zu gehen. Nach einigen Durchquerungen des zugegeben recht kleinen Raumes, stützte sich Charlie auf den Schreibtisch und sah zum Kommissar. Dieser hob langsam den Kopf und sie blickten sich lange in die Augen. Charlie fiel dabei diesmal ganz deutlich auf, daß der Blick seines Gegenüber kein bißchen von der Endgültigkeit dieses Morgens hatte. Dort leuchtete ausgelassene Heiterkeit.
– Was ist hier los, Mackenzie? Können sie diese Erbschaftsklamotten nicht später vergleichen, wenn wir hier fertig sind. Ich möchte es endlich hinter mich bringen.
– Wenn ich dies später täte, wärst du mir im nachhinein sicher böse…, jetzt lachte Mackenzie ganz offen.
– Was zum Henker geht hier ab?, Charlie stemmte die Arme in die Hüften.
– Nun, Charlie, es ist deine Erbschaftsangelegenheit…
– Ich bin hier wegen einer Erbschaftsangelegenheit? So ein Quatsch. Meine Mutter ist lange tot und hat mir nichts hinterlassen. Andere Verwandte habe ich nicht., Charlie faßte sich an den Kopf. Das konnte einfach alles nicht wahr sein.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Bixby trat mit drei Plastikbechern ein.
– Ihr Kaffee, Chef., der Sergeant verzog sich unbeteiligt in eine Ecke.
– Danke Bixby… Mister Harvet, trinken sie erst einmal einen schönen starken Kaffee, der stärkt die Nerven.
– Ich brauche nichts stärken… Ich bin völlig umsonst hier. Mir war doch von Anfang an klar, daß ihr mich verwechselt., Charlie nahm den ihm hingehaltenen Becher dennoch.
– Danke.
– Trink, Charlie… Du wirst ihn wirklich brauchen.
– Ich glaube, Leute, wir reden aneinander vorbei., Charlie verging die Lust an diesem Schauspiel. Dennoch war er am Zuge: – OK, OK. Hat mir mein Mütterchen doch noch etwas vermacht, von dem ich nichts weiß?
– Ja.
Charlie wurde hellh̦rig. РWie bitte?
– Ja, Charlie. Deine Mutter hat dir Schulden hinterlassen, die von deiner Erbschaft auch bereits abgezogen sind.
– Dann kann ja nicht mehr viel übrig sein… Moment… Ich erbe also nicht von meiner Mutter?
– Nein, Charlie., Mackenzie erhob sich pathetisch. – Du erbst von deinem Vater. Und es ist schon noch ein wenig übrig.
Es gelang Charlie nicht, ein böses Lachen zu unterdrücken: – Mein Vater? Ich kenne ihn nicht, aber er kann nicht viel getaugt haben, wenn er meine Mutter allein ließ.
– In seinem Testament erklärt er vieles, wenn auch nicht alles. Er hat es bitter bereut, so gehandelt zu haben.
– Das ist mir herzlich egal, getan hat er es. Ich nehme die Erbschaft nicht an.
Mackenzie atmete tief durch: – Ich verstehe dich vollkommen aber dürfen wir noch etwas fortfahren, bevor du dich über Annahme oder Verweigerung entscheidest?
– OK., Charlie ging wieder auf und ab.
– Es ist ein recht erquickliches Sümmchen, das dir sicher dein Leben erleichtern wird.
Charlie blieb wieder vor dem Schreibtisch stehen und sah mit gerümpfter Nase zu Mackenzie.
– Wieviel ist es denn nun? Zehn?, Mackenzie schüttelte nur den Kopf, während er Charlie fest in die Augen sah.
– Mehr?, Charlie fand nicht unbedingt Gefallen an dem Ratespiel, aber der Kommissar schien verzweifelt nach einem Weg zu suchen, ihn, Charles Harvet, vor irgendwas zu schützen. Also spielte er weiter mit. Mackenzie nickte.
– Zwanzig?, Kopfschütteln.
– Mehr?, Nicken.
– Na gut, es soll sich ja angeblich lohnen… Fünfzig?, Charles trumpfte auf. Er kannte niemanden, der soviel Geld übrig hatte. An Mackenzies Mine las er aber ab, noch immer nicht am Ziel zu sein. – Noch mehr?, Wieder Nicken.
– Sechzig!?… Siebzig!?… Achtzig!?… Neunzig??, langsam bekam Charlie weiche Knie. Er würde reich werden… – Noch mehr?? Mackenzies Kopfnicken bestätigte Charlie, daß er reich war. Mehr als 90 Pfund Sterling. Wie lange war das her, daß er zum letzten Male soviel Geld in der Hand gehalten hatte… Aber… Wenn die Schulden seiner Mutter abgezogen worden waren, die sich mit Verzinsung bestimmt unterdessen auf knapp tausend Pfund beliefen und noch immer eine Summe da war, die ihm das Leben erleichtern sollte… Ok, jetzt war er mit Scherzen an der Reihe. Schließlich hatte er ja schon mit Joe darüber gefachsimpelt, was er alles im Süden anstellen würde…: – Ist es etwa eine Million?, Mackenzie schrak kurz auf, stellte aber sofort fest, daß Charlie bluffte.
– Nein, Charlie…
– Das dachte ich mir gleich, wer vermacht mir schon eine Million…
– Charlie!, unterbrach ihn Mackenzie, – es ist noch mehr.
– Klar doch…, Charlie schüttelte den Kopf, – müssen sie mit mir solche Spielchen spielen?
Der Sergeant trat aus seiner Ecke heraus und ergriff den herrenlosen Stuhl: – Nein, Charles. Es geht nicht um ein paar Pfund, es geht um Millionen…
Diese Wortwahl wiedererkennend, mit der er im Wagen konfrontiert worden war, begannen seine Knie den Gummimambo zu schlackern. Es gelang Bixby gerade noch, ihm den Stuhl zuzuschieben, auf den er fiel.
– Ungefähr 100 Millionen Pfund Sterling.
– Die Millionen waren gemeint?, Charles Stimme versagte fast. Mackenzie nickte erneut.
– Kein Scherz?, das letzte bißchen Hoffnung auf sein normales Ganovenleben schwang in den Worten mit.
– Ich hieße jetzt lieber Charles Harvet, Jahrgang 1966 und könnte mich sogar damit abfinden, einen reichen Vater gehabt zu haben, der die ihm auferlegten, gesellschaftlichen Zwänge zu seinem Ende hin verteufelte und mich aufgrund seines schlechten Gewissens zum Alleinerben bestimmte., Mackenzie versuchte die psychologische Tour. Nicht sonderlich gut, das lag ihm auch nicht. Ihm fiel aber wie so oft der rettende Satz ein: – Du kannst die Erbschaft selbstverständlich auch zurückweisen, dies hieße aber, daß du mich gar nicht ernstlich zum Essen einladen wolltest.
– Wo muß ich unterschreiben?, Charles war sich nun hundertprozentig sicher, einen schlechten Traum zu träumen. – Ich unterschreibe nur und bin Millionär?
Mackenzie nickte auch jetzt: – Genau…. Na unterschreibst du nun?
– Ich weiß nicht genau, ob ich das kann…
– Du weißt nicht, ob du Millionen erben möchtest?
– Nein, ich habe vergessen, wie man schreibt.
– Oh Gott… Tu mir das nicht an…, Mackenzie war der Verzweiflung nahe. – Bitte probiere es auf einem leeren Blatt Papier, bis du dich erinnerst. Du hast alle Zeit der Welt. Zur Not nehme ich dich in Schutzhaft.
– Ich versuche es ja…, Charlie brauchte zahlreiche Anläufe, bis er seinen Namen halbwegs leserlich zu schreiben vermochte. Dies wiederholte er dann auf dem Formular. Nun schienen ihm einige Millionen Pfund zu gehören und er? Er spürte gar nichts. Es hatte sich überhaupt nichts verändert. Er war noch immer Charles Harvet.
– Und, wie geht es jetzt weiter?, fragte er an Mackenzie gerichtet.
– Bixby wird mit dir durch die Läden ziehen und dich ein wenig einkleiden, während ich alles in die Wege leite, daß du alle nötigen Ausweispapiere erhältst…. Herzlichen Glückwunsch.
– Kein Problem…, Charles drehte sich zu Bixby um, der eine einladende Handbewegung zur Tür hin andeutete.
– Ach, Charlie?
– Ja., der Angesprochene fuhr herum.
– Ich verlaß mich auf deine Einladung!, Mackenzie grinste.
Irgendwie wirkte er nun wie Joe, nur das hier mehr Zähne im Spiel waren.

5. Kapitel

– Na, Beatrice, da heißt es, sich ranhalten an den neuen Lord of Hingsley und Clayton. Vielleicht läßt er sich eher anpumpen., William grinste hintergründig.
– William, manchmal bin ich richtig froh, daß wir nicht verheiratet sind. Du kannst so ein wundervoll chauvinistisches Schwein sein., Beatrice Ihrerseits war außerordentlich wütend:
– Ich werde mich auch sicher nicht in deine Rangliste der Leidenschaften einsortieren lassen…
– So? Welche Rangliste denn?, William goß sich seelenruhig aus einer bauchigen Kristallkaraffe Sherry nach.
– Erstens Geld, zweitens Besitz, drittens Sex, dann eine ganze Weile nichts und irgendwann vieleicht einmal Liebe. Aber das die zu deinen Fähigkeiten zählt, wage ich unterdessen zu bezweifeln.
– Aber Schatz, ich liebe dich doch., Das Grinsen wurde infernalisch breit: – Und da ich annehmen kann das du mein Geld auch geliebt hast, als ich es noch besaß, bin ich der Meinung, daß du auch einmal etwas für mich…., naja für uns tun kannst. Du bist im besten Alter meine Beste, um so einen vertrockneten Aristokraten ein wenig in Schwung und um ein paar Pfund zu bringen.
– Das ist nicht dein Ernst?, Beatrice kreischte fast.
– Doch. Warum nicht?, er nippte kurz am Glas.
– Ich bin nicht deine…, deine… Glaub ja nicht, daß ich mich für dich prostituiere!
– Aber Schatz. Ich werde doch von meiner Schwester einen kleinen Gefallen erbitten dürfen.
Beatrice haßte diesen phlegmatischen Zustand Ihres Liebhabers.
– Ich bin nicht deine Schwester, verdammt…
– Falls das hier irgendjemand erfahren sollte, sind wir beide restlos ruiniert. Eine Frau deines Standes hätte ich hier nicht in die Gesellschaft einführen können. Als meine Schwester hattest du deine Chance. Es hat dir doch gut gefallen. Oder etwa nicht?
– Es ist mir egal, was die anderen Leute denken…
– Auf einmal?, fiel ihr William ins Wort, der sein gespieltes Desinteresse nun nicht mehr länger aufrechterhalten konnte. Beatrice fuhr auf und verließ Wut schnaubend den Raum, die schwere Eichentür ins Schloß schmetternd. William schmunzelte unvermittelt. Wußte er doch, daß Beatrice nichts mehr liebte, als den Klang raschelnder Scheine und klingender Münze. So sprach er besinnlich in Richtung der noch bebenden Türe: – Du wirst schon tun, was getan werden muß. Gleich und Gleich gesellt sich gern., Er trank den Sherry aus und genoß das scharfe Rieseln durch seinen Hals.
In wenigen Stunden würde sie ihn wieder um Geld bitten, um sich etwas Ablenkung zu verschaffen und er würde um des lieben Frieden willen einlenken. Frühestens dann konnte er mit ihr wieder vernünftig reden.
Mochte sein, daß er diese Frau einmal ernsthaft geliebt hatte, jetzt ging sie ihm mehr und mehr auf den Wecker. Vor seiner Fehlspekulation, als er durchaus wohlhabend war, gab es keinen Streit zwischen Ihnen. Beatrice verschwand meist für ein, zwei Tage und kam mit einer Wagenladung Kleidern und Presenten zurück. Diese Zeiten waren nun vorbei. In jeder Hinsicht. Nun war sie noch nicht einmal bereit, etwas für ihr Geld zu tun. Er hatte ja gar nicht verlangt, daß sie mit dem neuen Lord das Bett teilen solle, wenngleich ihn diese Vorstellung auf eigenartige Weise erregte. Auf alle Fälle hatte sie genügend Talent, einen kleinen adligen Trottel, er verbesserte sich, noch nicht mal adligen, neureichen Trottel mühelos in tränenrühriges Mitleid zu verstricken…
Nein, Beatrice war nurmehr eine Last für ihn. Er würde sie über kurz oder lang auf elegante Weise loswerden müssen, um nicht selbst kompromittiert zu sein. Sie als seine Schwester einzuführen hat sich nun als schwerwiegender Fehler herausgestellt. Sollte nach außen dringen, daß er das Lager mit ihr teilte, würde man ihn des Inzest beschuldigen und aus der Gesellschaft ausschließen. Von der High Society ignoriert zu werden, wäre der härteste Schlag für ihn, schlimmer noch als Armut. Dann hätte er jegliche Chance auf neuen Wohlstand endgültig verwirkt.
Wenn er sie des Hauses verwiese, kämen mit Sicherheit Fragen auf, die er beantworten müßte. Die Familie steht in dieser Gegend hoch im Kurs. Beatrice könnte auspacken…
Auch den Gedanken an Mord verwarf er schnell. Das war nicht sein Stil und seinem Verstand nicht würdig. Dieser schien nur etwas eingerostet.

***

Auf dem Hingsley’schen Besitz herrschte eifrige Betriebsamkeit. Wie würde der neue Lord wohl aussehen? Einige der Dienstmädchen schnatterten aufgeregt durcheinander. Sicher gab es einige von ihnen, die sich ausmalten, vielleicht sogar eines Tages von den anderen Mylady“ genannt zu werden. So etwa mitte Dreißig sollte er sein.
Der einzige, den das ganze Geschrei wenig berührte war Jeremias Pendleton. Für ihn, als langjährigen Vertrauten Sir Arthurs, Butler aus Gesinnung fing die eigentliche Arbeit erst wieder an, sobald der neue Lord eintraf. Alle Räume waren hergerichtet, alles fein säuberlich geputzt. Seine Aufsicht war demnach nicht nötig. Sollten sich die jungen Dinger ruhig die Mäuler zerreißen. Solange alle Arbeit fertig wurde, war er es zufrieden.
Der Chauffeur war in den frühen Morgenstunden in Richtung London aufgebrochen, um Sir Charles im Hotel aufzusuchen und ihn nach Hause zu begleiten.
Er saß am Gesindetisch in der gigantischen Küche, dem Reich der besten Köchin, die es gab. Wenn er nicht alle Tage Kilometer innerhalb des Gebäudes und der Terassengärten zurücklegen müßte, hätte er sich vermutlich ebenso ansehliche Reserven aufbauen können wie sie. Nun ja, zugegeben, als er Mary geheiratet hatte, wog sie weit weniger als die Hälfte, aber er liebte sie dennoch innig. Stürmischen Anwandlungen widersetzte er sich bei ihr ohnehin nie, wenngleich er seinen ehelichen Pflichten mit seinen 68 Lenzen immer seltener nachkommen konnte. Nichtsdestotrotz hatte ihre Ehe nun schon sein über 30 Jahren Bestand. Sie war einiges jünger als er, mitte fünfzig, fast einen Meter neunzig groß und brachte sicher um die 170 Kilogramm auf die Waage.
Einem solch liebevollem Gemütsmenschen lief so schnell nichts aus dem Ruder.
Somit fürchtete er auch nicht um ihre Stellungen im Hause Hingsley.
Er würde, wie bisher Sir Arthur, auch jedem kommenden Lord die selbe Hilfe sein, so lange er lebte. Eines allerdings beunruhigte auch ihn etwas. Man schwatzte, der junge Lord habe eine etwas zweifelhafte Herkunft. Sollte er dadurch weniger Lord sein? Lord blieb Lord. Es verblieben noch einige Stunden, bis der neue Herr von Hingsley eintreffen würde. Spätestens dann wüßten alle hier mehr. Speziell dachte er dabei auch an die ehrgeizigen, selbstsüchtigen Nachbarn, deren kriecherischer Speichelleckerei der seelige Sir Arthur eine deutliche Abfuhr erteilte, als er ihnen die ausgekohlten Schächte vermachte. Ganz schön durchtrieben. Aber noch stellten sie eine Gefahr dar. William Mainlay fand immer einen mehr oder minder rechtschaffenen Weg Geld zu scheffeln und seine Schwester Beatrice spielte dabei eine keineswegs untergeordnete Rolle. Jeremias glaubte nicht wirklich, daß sie seine Schwester war. Aber das ging ihn nichts an. Auf alle Fälle würde er gut daran tun, den jungen Lord zu warnen. Falls Sir Charles nur ein wenig bei Verstand war, würden die Geier mit Sicherheit abblitzen.
Bislang war er nicht nur Butler des Lords sondern zunehmend auch Berater gewesen und somit eingeweiht in die meisten Transaktionen seines Herrn. Das genaue Vermögen wußte aber auch er nicht einzuschätzen. Sir Arthur wußte es aber stets mit angemessener Nächstenliebe zu bewahren und zu mehren. Er war ein umsichtiger und gütiger Mensch.
Was würde nun auf alle hier zukommen?
Die Zeiger der Uhr klammerten sich krampfhaft an jede Minute.
Jeremias goß sich einen doppelten Scotch ins Glas und verdünnte ihn mit etwas Soda. Eigentlich war dies nicht seine Art, während des Dienstes zu trinken, aber er suchte die Beruhigung, die ihm dieser liebliche Tropfen schenkte. Seine Zunge liebkoste den sanften Tropfen, der ihm langsam durch die Kehle rann und er genoß die aufsteigende Wärme in seinem Hals, bis der Geschmack des Rauchs und der Fässer seinen Gaumen erreichte. Das war noch echter Whisky.