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_digitalisierte_Handschrift_von/über _Iannis_Kanopoulos_verfasst_2125-12-31 (arc-2126-06-14_verif/auth/true)

Nürnberg, Montag, den 31.12.2125
Lebt wohl!

Ich bin jetzt 55 Jahre alt und vollkommen leer. Ich habe alles gegeben. Es ist nichts mehr übrig. Was soll der Sinn all dessen sein?
Bin ich depressiv? Wahrscheinlich.
Bin ich verrückt? Sicher nicht.
Ich möchte denen, die nach mir kommen weder den Mut nehmen noch die Hoffnung. Ich selbst habe aber unterdessen beides verloren.
Ich möchte niemandem zur Last fallen. Und ich werde ein paar Worte zum ‚Warum‘ verlieren, da sich Verwandte darüber oft Gedanken machen. Nicht dass ich noch Verwandte hätte, von denen ich wüsste.

Ich lebe nun seit bestimmt schon 8 Jahren in der Nähe von Nürnberg. Zuvor wohnte ich mit meiner Familie – meiner Frau Lana, meinem Sohn Atos und meiner Tochter Euridia – in Bremen. Mein Großvater war 2053 vom griechischen Westmakedonien nach Deutschland gekommen, um der Familie ein besseres Leben bieten zu können, als es in der dortigen, ländlichen Gegend möglich gewesen wäre.

Während mein Großvater sich als Landarbeiter durchschlug, ermöglichte er meinem Vater Dimitri ein Studium der Informationstechnik, das mein Vater im Sommer 2072 mit einem Master in Aerospace Technologies abschloss. Das war knapp drei Jahre bevor RSI die Raumfahrt auf ein neues Level hob und den Boden für die eigentliche Arbeit meines Vaters bereitete.

Von ein paar Sturmfluten, Orkanen, Blizzards und Dürreperioden mal abgesehen, war die Welt damals noch in Ordnung. Menschen in andren Teilen der Welt ging es da viel schlechter. Doch das soll nicht mein Thema sein.
Es bestand also kein Zweifel daran, dass ich eine eigene Familie gründen und Kinder haben würde.
Ich hatte eine wundervolle Kindheit, in der ich mich bereits ausgiebig mit der Raumfahrt befasste. Hätte es mich wundern sollen, dass meine Kinder der Familientradition folgten? Natürlich nicht.

Ich mag es nicht Schicksal nennen. Doch es war bezeichnend für mein 22. Jahrhundert. Seit den 80er Jahren des 21. Jahrhunderts hatten Meteorologen neue Klassifizierungen für zerstörerische Wetterphänomene geschaffen und vorhandene ergänzt.
Die große Sturmflut von 2116 hinterließ Bremen als eine glatt geschliffene Inselwelt. 120.000 Tote. Inklusive meiner geliebten Ehefrau. Dank der Meteorologen konnte ich nun sagen, dass ein Klasse 6 Orkan daran schuld war. Die waren zwar immer noch extrem selten aber die gefühlt kaum weniger verhängnisvollen Klasse 3 oder 4 Orkane gab es in der Sturmsaison nun fast regelmäßig.
Das Grundwasser war versalzen und Bremen wurde 2117 aufgegeben, während man etliche Kilometer landeinwärts mit dem Neuaufbau der Stadt begann.

Die Erinnerungen an bessere Zeiten klebten an unserem Haus. Also zog ich aus dem gebeutelten Norden weg. Die größeren Städte hatten alle massiv gelitten. Sie waren von Sommerhochwassern mit Pegeln von 10-15m über normal oder Sturmfluten mit vergleichbaren Hochwassern hinweg gewaschen worden, unter Orkanen zusammengebrochen oder wiesen Schneisen der Tornados auf, die sich nun fast regelmäßig in der mitteldeutschen Tornado-Allee bildeten.
Ich habe Kathedralen fallen sehen. Ich habe Menschen sterben sehen. Mehr als mir lieb ist.
Deutschland verlor jedes Jahr hunderttausende an Einwohnern. Während Großunternehmen mit der Raumfahrt Milliarden verdienten, starb der kleine Bürger auf deutschen Straßen an Kälte oder Hitze, Nässe oder Dürre, Hunger oder Durst, an Krankheiten, die bis vor Jahren noch problemlos heilbar waren oder durch die Volkskrankheit Nummer 1 – Krebs.
Oder schlicht durch die alltägliche, ausufernde Gewaltkriminalität.

Von meinen Sohn Atos habe ich seit dem Schiffsunglück auf dem Mond Anfang diesen Jahres nichts mehr gehört. Es soll eine radioaktive Explosion gegeben haben. Man konnte die Opfer bisher nicht identifizieren.

Auf dem Mars hatte man eine Atmosphäre geschaffen, während die Erde dahin siechte. Nahrung, Wasser und Energie wurden rationiert. Irgendwie unvorstellbar für das einst so reiche Deutschland. Die Infrastruktur hat massiv gelitten, seit die Energie zur Mangelware wurde. Die Energienetze waren durch den großen EMP von 2119 mehr oder weniger offline, da Überlandleitungen auch regelmäßig durch Stürme gekappt wurden. Windräder knickten um wie die Streichhölzer, Solaranlagen verstaubten binnen Monaten und das Wasser war, sofern vorhanden, nicht mehr zu bändigen. Die ehemaligen Rückhaltebecken waren in den letzten 20 Jahren eines nach dem anderen geborsten.
Das fluktuierende Magnetfeld der Erde ließ immer öfter massive EM-Strahlung durch. Oberirdische Elektronik und Elektrotechnik gab es kaum noch. Unterirdische soff regelmäßig ab…

Euridia, meine geliebte Tochter, hatte sich 2120 als Freiwillige zum Marsprojekt gemeldet und war aufgrund ihrer Qualifikation auch ausgewählt worden. Ich konnte sie gut verstehen. Es mochte überall schöner sein, als derzeit in Mitteleuropa. In diesem schicksalhaften 2125 habe ich nun auch sie verloren. Was nützte es mir, ihren Namen als Heldin in einem Nachruf zu lesen. Sie kehrte nicht wieder. Erstickt auf einer fremden Welt.
Beide Kinder im selben Jahr. Welcher Mensch soll das allein verkraften können?

Seit nunmehr 10 Jahren diskutieren Experten, ob man das erprobte System des Terraformings nicht auch auf der Erde zur Milderung der Klimaeffekte anwenden könne. Bis zu diesem Jahr hätte ich dies zweifellos befürwortet. Aber heute?

Es steht uns einfach nichts mehr bevor, worauf man sich noch freuen könnte. Nichts was die Welt innerhalb meiner verbleibenden Lebensspanne wieder lebenswert machte.
Ein Universum das keinen Platz für meine Familie hat, ist es nicht wert, darin zu leben. Aus diesem Grunde werde ich meinen Alptraum noch vor dem Jahreswechsel beenden.


InfoDB_Sol3_Gamma_4_digitalisierter_Druck_ über_ Iannis_Kanopoulos_verfasst_2126-01-02 (arc-2126-06-15_verif/auth/true)

Polizeibericht, Nürnberg. Mittwoch, den 02.01.2126

Unsere Dienststelle wurde durch Com-Kontakt eines Atos Kanopoulos auf den leblos aufgefundenen Körper eines Mannes aufmerksam gemacht. Der Zeuge identifizierte den männlichen Leichnam als dessen Vater Iannis Kanopoulos (geb. am 11.07.2070 in Bremen).
Dessen Tod trat wahrscheinlich am 31.12.2125 zwischen 22:00 und 23:00 Uhr ein. Zu dieser Zeit befand sich Atos Kanopoulos nachprüfbar auf dem Rückweg aus einem Lazarett auf dem amerikanischen Kontinent. (Nach eigenen Angaben sei er dort zwei Tage zuvor aus dem Koma erwacht. Großflächige Brandverletzungen machen seine Angaben glaubhaft.)
Iannis Kanopoulos hatte nach Annahme des Gerichtsmediziners während einer depressiven Phase Suizid durch eine Überdosis Narkotika begangen und einen per Handschrift verifizierten Abschiedsbrief hinterlassen. Die Ermittlungen in diesem Todesfall werden eingestellt.
Der Leichnam wurde freigegeben und durch Atos Kanopoulos entgegen genommen und quittiert.

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_digitalisierter_Druck_von/über _Atos_Kanopoulos_über_Canopus _verfasst_2158-12-12 (arc-2160-10-13_verif/auth/true)

Space-Forschungsstation, nahe Orlando/Florida
verfasst von Prof. Dr. rer. tech. Dipl.-Ing. Atos Kanopoulos – Dienstag, deN 12.12.2158

Ich darf nicht im Detail darauf eingehen, woran ich arbeite und wo und in welcher Form dies geschieht. Aber ich darf mit Fug und Recht behaupten, dass auch ich einen Anteil daran habe, dass wir über dem Mars nun einen blauen Himmel bewundern können.

Seit Wochen prüfen wir in der Forschungsstation neue Atmo-Prozessoren, die möglicherweise eingesetzt werden können, den Planeten für uns wieder lebenswerter zu machen. Hier in Florida arbeiten wir mit einer Form der s.g. Injection-Methode. Dabei werden geladene Teilchen in die Atmosphäre injiziert und bewirken Abkühlungen, Erwärmung oder andere, lokal begrenzte Effekte. Das ist natürlich extrem vereinfacht dargestellt.
Nach der diesjährigen Hurrikan-Saison können wir mit Fug und Recht behaupten, dass wir wahrscheinlich Fortschritte erzielt haben. Alle Hurrikans über Klasse 3 haben wir in diesem Jahr um 1 bis 2 Stufen in ihrer Intensität drosseln können. Ja, sie waren natürlich noch immer verheerend aber nicht mehr absolut tödlich.

Wir waren in den vergangenen Jahren durch klimatische aber auch geologische bzw. tektonische Ereignisse massiv zurückgeworfen worden. So ging beispielsweise 2144 die Forschungseinrichtung in Kalifornien bei einem der großen Beben der Stärke 9 verloren. In den Jahren 2145 bis 2149 wurde uns schmerzlich bewusst, wie dringend erforderlich eine zuverlässige Technologie zur Atmosphärenreinigung war.
Zum Glück für die gesamte Menschheit war der Ausbruch des Yellowstone nur ein winziges, partielles Intermezzo, da sich ein Teil des Druckes durch die Erdbebenserie von 2144 wohl bereits abgebaut hatte.
Dennoch war der Krater mit einem Durchmesser von 1km durchaus imposant.
Auch die durch die pyroklastischen Ströme hinweggespülte Zivilisation im Umkreis von fast hundert Kilometern war überwältigend. Die gesamte Gegend war nun zu Asche und Glas erstarrt und kahl. Sie wird das wohl auch bleiben, bis wir eine passende Technologie finden, diese Gebiete erneut zu erschließen.

Darauf folgten die kalten Jahre „unter der Asche“, die der Menschheit zwar viel abverlangt sie aber letztlich durch die globale Abkühlung gerettet haben.
Die Lebensmittelknappheit war seinerzeit erschreckend. Selbst unter dem Aspekt, dass man frische Lebensmittel in wenigen Stunden um die ganze Welt fliegen konnte. Die Welt war ein Dorf geworden.

Mit dem Zusammenwachsen wuchsen auch die Klassenschranken erneut. Es folgte eine Periode gegenseitiger Verdächtigungen und Aggressionen. Die Welt gelangte durch die Eskalation der Gewalt an den Rand eines neuen Krieges. Zumindest wenn man mal die paneuropäischen Unruhen des frühen 22. Jahrhunderts außer Acht ließ.
Die Vereinten Nationen wuchsen in ihrer Bedeutung für die Weltpolitik und gewannen an Gewicht und Entscheidungsbefugnissen. Jedermann wusste was wir zu erwarten hätten, wenn wir nicht mit einheitlichen Zielen an einem Strang zögen. Unsere Stunden wären gezählt gewesen.


Es ist nun bald 33 Jahre her, dass sich mein Vater das Leben nahm und damit unbewusst meine akademische Karriere in eine andere Richtung lenkte. Die Ereignisse von 2125 waren für mich insgesamt von einschneidender Bedeutung.

Es war seinerzeit ein Schock für mich, meinen Vater und vor allem seinen erschütternden Abschiedsbrief zu finden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, alle Hoffnungen schwinden zu sehen. Ich möchte es mir auch nicht vorstellen. Er glaubte, mich ebenfalls verloren zu haben, nachdem er nichts mehr von mir hörte. Kommunikation war damals schwierig. Mit Menschen in den Großstadt-Slums ganz besonders. Als wir vor den Naturgewalten nach Nürnberg flüchteten, war mein Vater allerdings durch den Tod meiner Mutter bereits sehr mitgenommen. Ich hätte es kommen sehen müssen.

Nachdem ich mir bei der Explosion des Schiffes auf der Mondbasis schwerste Verbrennungen zuzog, wurde ich bewusstlos in die Krankenstation gebracht. Der behandelnde Arzt rettete mein Leben, indem er mich ins künstliche Koma versetzte. Monate später wurde ich in die medizinische Einrichtung der New Yorker Basis verlegt. Vor Antritt der Rehabilitationsbehandlung wollte ich meinen Vater nur kurz besuchen…

Gestern habe ich nun meinen 65. Geburtstag gefeiert. Es war eine kleine, private Feier. Mira, meine Frau, schenkte mir eine kleine Arbeit aus Strandgut. Sie ist Künstlerin und fertigt diese Sachen schon seit vielen Jahren. Das Geschenk war klein. Sie wusste, dass mir ihre Arbeiten zwar nicht besonders gefielen, ich sie aber allemal lieber hatte als gekauften, unnützen Mist.
Meine Frau ist ein herzensguter Mensch und eine wundervolle Mutter und Großmutter. Mein Sohn Dimitri – er heißt so nach seinem Urgroßvater – konnte leider nicht kommen, weil er in Port Renatus durch einen Sandsturm aufgehalten worden war.

Mein Enkel Michael hat letztes Jahr das College abgeschlossen und hat sich freiwillig zur United Navy der UN gemeldet. Die Jungs fliegen Raumschiffe. Achje, das muss erblich sein. Oder einfach der Trend der Zeit. Dimitri hatte mit ihm mal einen Ausflug mit einer „RSI-Zeus“ gemacht. Seitdem war Michaels Entscheidung unumstößlich.
Beim Bierchen mit seiner Freundin Brenda erzählte er mir lachend, dass seine Kommilitonen an der Akademie wohl Schwierigkeiten hatten, den Namen Kanopoulos auszusprechen. Er äffte dabei ein paar Versprecher nach, was auch mich zum Lachen brachte.
Letztendlich, so sagte er mir, hätten sich seine Vorgesetzten wohl gezwungen gesehen, ihm das Rufzeichen „Canopus“ zu geben.
Das sei nicht der schlechteste Name für einen Weltbürger, scherzte ich.