Die Siedlung lag im Schein der durch die Filter mäßig gedämpften Sonne. Für den Nachmittag war Regen angekündigt worden.
Als ob dieser nicht im Garten präzise niedergehen konnte. Nein, wieder mußte er, Martin Grund, darunter leiden, daß sich die Mehrheit der zweiundvierzig Einwohner der Siedlung gegen seinen Einspruch einen Vollregen bestellten. Jedes Mal wenn dieser Regen fiel, mußte er die lärmenden Reinigungsroboter ertragen, die sein Grundstück in ein Chaos verwandelten. Hatte er nicht die Steueranlage programmiert, mit deren Hilfe natürliches Kondenswasser zielgerichtet unter der Kuppel der Siedlung verteilt werden kann. Ein Vollregen hieß jedesmal, den Rechner auszuschalten, um die Sammelventile manuell zu öffnen. Er weiß schon gar nicht mehr, ob die Steuerung durch die vielen Abschaltungen überhaupt noch voll funktionierte.
Doch nicht nur dies ließ Martin rasend werden. Seit geraumer Zeit war auch die Verläßlichkeit der Zuliefereinheiten rasch gesunken. Unpünktlich und scheinbar wahllos übergingen sie seine terminierten Anforderungen. Damit war auch die schlechte Laune für den Rest des Tages gerettet. Sein geniales Experiment stand seit vier Stunden und achtzehn Minuten unvollendet, nur weil die letzten fehlenden Teile nicht termingerecht geliefert wurden. Doch verwunderlich war das gar nicht. Seit die Menschen vor etwa eineinhalb Jahren die Kontrolle und Koordinierung den Automaten selbst überließ, mußte zwangsläufig alles drunter und drüber gehen. Der Mensch fehlte in der Befehlsreihe einfach. Und nur der hätte dem lahmen Pack Beine und Flügel machen können. Vier Stunden und zweiundzwanzig Minuten.
Anfangs lief ja alles ganz gut. Sie wollten zeigen, daß sie es konnten. Die Schlamperei riß erst ein, als die Siedler aus der Stadt gänzlich auszogen und die Kontrollmanuale stillegten. Verdammte Blechdinger. Sie mußten nur darauf gewartet haben. Zugegeben, die Produktivität hatte unglaublich zugenommen – aber war das nicht auch das Mindeste? Die Versorgung der Menschen jedoch schien plötzlich nur noch zweitrangig zu sein, in den Hintergrund zu treten.
Er haßte die gefühl- und vernunftlosen Blechkästen. Vier Stunden und dreißig Minuten.
Am Haupttor und der Schleuse regte sich plötzlich Leben. Endlich brachte man wohl seine Lieferung.
Nein, was er sah erboste ihn maßlos… Vielleicht zwanzig Trabots und andere nicht identifizierbare Bestandteile bildeten einen gigantischen Lastenroboter. Er, Martin Grund, Professor und Doktor der Kybernetik und Molekularphysik und Doktor-Ingenieur für biokinetische Transformierungstechnik, mußte geschlagene vier Stunden und zweiunddreißig Minuten auf seine Geräte warten, weil die Blechmonster erst ein Knäuel zu bilden geruhten. So eine Art Sammellieferungs-Manier schien um sich zu greifen. Noch ganze vier Minuten dauerte es, bis der Haufen sich aufgelöst hatte und seinen Aufgaben nachkam. Die Trabots lösten sich und schwärmten unter Aufsicht einiger Kabots aus. Der KaPode XR 4C, der Sicherheits-Autopode der Siedlung, auch liebevoll Exer genannt, beobachtete intensiv das Treiben. Einigen diebischen TraBots hatte er so intensiv „auf die Finger“ geschlagen, daß diese zur Verwertung in die Stadt gebracht werden mußten. Exer also blieb am Tor der Siedlung stehen, um einen letzten Rest Ordnung abzusichern.
Eine solche Maschine fand Martin dutzendfach sympathischer, als einen von draußen. Denen konnte man nicht trauen. Peinlich genau achtete Exer darauf, daß die Transportrobots nichts anrührten. Diese luden unbeeindruckt ab und verschwanden wieder, sich im Abmarsch wieder zum Knäuel verkeilend.
Martins Hauskybernet, ein netter umgänglicher Oldtimer aus der ersten von ihm selbst entwickelten Serie, fügte alle Geräte nach Zeichnung zusammen. Professor Doktor Martin Grund schwoll die Brust. Wie hatte er das wieder gemacht? In Gedanken klopfte er sich auf die Schulter.
Die ersten Experimente zeigten eindeutige Erfolge. Pflanzen und auch kleinere Tiere ließen sich mühelos und gefahrlos von einer Sendestation in Energie verwandeln die von einer entfernt stehenden Antenne eingefangen und im Empfangsgerät laut Muster wieder materialisiert wurde. Kein einziger Punkt seines Probelaufs im mathematischen Test wurde in Frage gestellt oder auch nur durch einen Hauch von Zweifel getrübt. Er konnte sein erstes wirklich revolutionierendes Kunstwerk zur Anwendung bringen. Vor einiger Zeit hatte er ein Komplementärgerät gebaut, daß sowohl zu senden als auch zu empfangen vermag. Es konnte von seiner Zentrale ferngesteuert und somit vollständig eingestellt werden. Er sendete vor dem eigentlichen Medium erst eine Informationssequenz, deren korrekter Empfang ihm rückquittiert wurde. In seinem Labor funktionierte alles so fehlerfrei, daß er an sein Genie glauben durfte. Kein einziger Fehlversuch in den letzten einhundert Reihen.
Er wollte nun endlich einen Menschen zur historischen Kultfigur machen. Leider konnte er nicht sich auf diese unglaubliche Reise schicken… wer sollte seine Erfindung so sicher bedienen können wie er selbst. Einen Fehler konnte er nicht verantworten. Würde er aber auch nicht müssen.
Er prüfte sorgfältig seine Personen-Identifikations-Karte, oder kurz PIK auf Lizenzen. Die von ihm durch die Entwicklung der Wettersteuerung gutgeschriebene Lizenz würde er nun einlösen. Am Terminal trug er seinen Wunsch ein: Lizenz NH3 – die Lizenz, natürliche humanoide Lebensformen für Forschungszwecke mit garantierter Lebenserhaltung zu verwenden. Diese Personen waren meist Ausgestoßene, die über ihre Möglichkeiten gelebt und alle Lizenz-Kredite verloren hatten, die NULL-Kategorie Mensch. Diese lebten entweder außerhalb menschlicher Siedlungen als Vogelfreie oder in den Arbeitssektoren, die für die Maschinen zu verschleißintensiv waren. Ein Mensch der sich im Rahmen der NH3-Lizenz zu einem Versuch meldete, hatte die Möglichkeit, seinen Kreditrückstand zu löschen und ein freier Mensch zu werden. Sekunden später wurde angezeigt, daß zum Erwerb dieser Lizenz seine Gutschrift nicht ausreiche. Was war das schon wiederfür ein Trick. Er tippte nochmals ‚Lizenz NH3‘. Die gleiche Antwort. Er ließ sich die NH-Kategorien anzeigen, verglich sie mit seinem Handbuch. Alles korrekt. Wie konnte sein Konto dies nicht hergeben. Die Tasten stöhnten unter seinem wütenden Hämmern. Tatsächlich ließ sein Kontostand den Erwerb einer der höchsten Lizenzen nicht mehr zu. Stimmt, jetzt kehrte die Erinnerung zurück. Natürlich, der Transport der Komplementärstation nach Moon-Town II verschlang ein Vermögen, weil er sich wegen des einen Mals keine interplanetare Freiflug-Lizenz kaufen wollte.
Urlaub machte er nie, Geschäftsreisen waren unnötig…
Er hatte alles was er zum Leben brauchte – und eine Freifluglizenz brauchte er ganz sicher nicht. So furchtbar es war, er mußte eine großartige Erfindung machen, um sich die Lizenz NH3 leisten zu können.
Verdammt, er arbeitete seit Monaten an einer Erfindung, die ihm die Freizügigkeitslizenz einbringen konnte und nun sollte es daran scheitern, daß er sich die NH3 nicht leisten konnte. Brauchte er sie denn überhaupt. Für das Leben der Person bestand überhaupt kein Risiko, er hätte es sogar selbst getan, so sicher war er. Die Vorschriften verlangen aber bei Neuentwicklungen die NH3 für Versuche mit lebenden Personen. Aber wenn kein Risiko besteht?
Die NH2 – Lizenz ermöglicht Versuche mit lebenden Personen, deren Ãœberleben gesichert ist und deren Gesundheit nicht über 10% angegriffen werden kann. Auch dafür reichte die Gutschrift nicht aus. Die einzige Lizenz mit deren Hilfe er eine Versuchsperson bekommen konnte war die NH1. Die NH0 bedeutete die Anforderung eines Lebewesens lediglich zum Zwecke des Zeitvertreibs durch Gespräche oder intimen Verkehr, Dinge also die nichts wissenschaftliches an sich haben.
Mit der NH1 wurde ihm die Möglichkeit gewährt einen Menschen einem geistigen oder gesundheitlichen Test zu unterziehen, ohne physische oder psychische Experimente zu erzwingen, wenn sie nicht frei gewährt werden, nachdem die Versuchsperson vollständig über Inhalt und Wesen des Versuchs aufgeklärt worden ist. Reichte dies nicht auch schon aus?
Nachdem ihm bestätigt wurde, daß er zum Erwerb der NH1-Lizenz ausreichend kreditiert sei, bestätigte er den sofortigen Erwerb. Gleichzeitig orderte er seinen ersten Versuchspartner. Zum einen würde er selbst berühmt werden und die Freizügigkeits-Lizenz zum anderen könnte er ein menschliches Wesen der NULL-Kategorie wieder zu einem normalen Leben verhelfen. Er durfte jedoch nicht vergessen, von seinem Freizügigkeitskonto sofort die NH3 nachzukaufen. Eine kurze Zeit würde dies bestimmt nicht auffallen. Schnell prüfte er alle seine Lizenzen auf ihre Geltungsdauer und lehnte sich zufrieden zurück als er sah, wie jede einzelne neu bestätigt und zusätzlich um einen Turnus verlängert wurde. Er fühlte sich berauscht. Übermütig orderte er für den Abend eine Frau über die NH0.
Die Siedler würden ihn feiern müssen. Er genoß in Gedanken die zelebrierten Gratulationen und die feierliche Übergabe der Freizügigkeits-Lizenz, mit deren Hilfe er alles haben konnte. Na gut, fast alles. Auf alle Fälle könnte er sich dann getrost anderen Menschheitsträumen und deren Verwirklichung widmen, ohne jemals irgendeiner kreditären Einschränkung Tribut zollen zu müssen. Ja, das war sein Ziel und diesem wußte er sich greifbar nahe. Der Tag seines Triumphes war angebrochen.
Für den Nachmittag war die Versuchsperson der NULL-Kategorie angekündigt worden. Eine männliche Person, die beim Diebstahl von Früchten im Gemeinschaftsgarten gefaßt wurde. Für die NH1 werden keine Schwerverbrecher ausgehändigt, das war klar und gut so. Ein hervorragend durchdachtes System, das die Gesellschaft funktionsfähig erhält und jedem die gleichen Chancen einräumt. Auf- und Abstieg in Abhängigkeit von Wichtigkeit und Leistung des Einzelnen. Besitz spielte dabei eine sehr untergeordnete Rolle, denn vererbt wurden Lizenzen nicht. Eben natürliche Auslese.
Martin widmete sich den Vorexperimenten. Die Ratte im Käfig schien ängstlich.
– Na, mein Zuckerschnäuzchen, – beruhigte es Martin, – du brauchst keine Angst zu haben. Das funktioniert alles prächtig, ich habe es nämlich selbst entwickelt. –
Die Ratte blieb davon unbeeindruckt und nagte weiter nervös an den Gitterstäben. Die Rückmeldung, das OK vom Mond traf ein. Der aufgetretene Zeitversatz störte Martin nicht.
– So, Schatzi, der Mond sagt o.k., guten Flug, bye, bye! – Er betätigte die Auslösetaste und die Ratte verschwand planmäßig ohne einen Laut von sich zu geben. Das Kommunikationsterminal „klopfte“ an. Martin nahm das Gespräch entgegen. Der Versuchsassistent auf der Mondbasis quittierte den Empfang einer lebenden, gesund aussehenden Ratte. Dies mußte Martins glücklichster Tag sein. Er begann unvermittelt ein altes Kinderlied zu singen und registrierte seinen Gesprächspartner, sein Lächeln und den schwindenden Empfang nicht mehr.
Die Kuppelfilter begannen dem grellen Sonnenlicht zu trotzen. Funkwellen gelangten nunmehr nur über die Zentralantenne ins Innere, die sich noch nicht eingeschaltet hatte. All dies übersang Martin im Glücksrausch. Als es an der Tür läutete, konnte er sich gar nicht so schnell beruhigen. Noch immer ein Pfeifen auf den Lippen öffnete er die Haustür. Zwei Männer, die er nicht kannte, standen vor ihm.
– Ist das mein Gast für den Nachmittag? –
Sein Gegenüber bestätigte es ihm und er unterschrieb das Formular, quittierte den Erhalt einer Person NULL-Kategorie.
– Ich hole ihn in zwei Stunden wieder ab. – bemerkte der Lieferant beiläufig und fügte hinzu, – ich denke, daß ihre medizinische Plänkelei bis dahin erledigt ist, die Typen sind gefragt. –
– Was wird hier gespielt? – Doktor Grund konnte nur schwer an sich halten.
– NH1 Objekte werden laut Satzung nur zeitbegrenzt ausgeliehen, damit ihnen keine Verpflegungsprobleme entstehen. Auf Wiedersehen in zwei Stunden! –
Der Mann verschwand ohne einen weiteren Kommentar.
– Komm rein, wir müssen uns beeilen. – Martin verschwendete keine Zeit, sich um den gelieferten NH1 zu kümmern sondern holte die Ratte mit wenigen Handgriffen wohlbehalten zurück.
Die Rückmeldung erlosch für einige Augenblicke, um sich kurz darauf erneut einzustellen.
Martin hämmerte in Zeitnot auf den Tasten herum, um die verschwindend geringen Reserven zu mobilisieren.
– So NH1, – wandte er sich an den Mann, – sie setzen sich bitte in die Kammer dort und lassen sich ein wenig berieseln von der Atmosphäre. Ich habe dann ein paar Fragen an sie. –
Der Ahnungslose tat, wie befohlen. Bestand doch für keinen von beiden der geringste Grund für Zweifel.
Die Rückmeldung kam diesmal unverzögert herein. Freudig erregt betätigte er den Auslöser. Mit dem Niederdrücken der Taste raste ihm der Gedanke durch den Kopf, daß die Energiefilter der Kuppel sein Funksignal gar nicht hätten direkt passieren lassen können, solange die Zentralantenne noch nicht eingeschaltet ist. Das Schweigen des Kommunikationsterminals verstärkte im Rhythmus seines Herzschlags die Angst. Sein Experiment war für den späten Nachmittag geplant und programmiert worden, wenn die Filter ihre Arbeit einstellen. Wie konnte er diesen wesentlichen Punkt vergessen. Schweißnaß hockte er vor dem Terminal und schien scheinbar zu schrumpfen.
Er war einer Ohnmacht nahe, als der Kommunikator anrief.
– Junge, was hast du für Monster auf Lager? Was soll das elende Riesentier oder Ding im Apparat. – Der Assistent wurde abwechselnd rot und blaß, er schrie förmlich aus Angst. – Holen Sie sofort das Ding zurück! Und warum dauert es so lange mittags eine Verbindung zu bekommen…
Professor Doktor Martin Grund wußte, daß er alle Gesetze übertreten hatte. Er hoffte auf eine göttliche Fügung und eine rettende Rückholung. Mit Zeitverzögerung traf das Rückmeldesignal der Mondbasis ein und er löste die Rücktransformierung aus.
Der Ehrenkodex ging ihm durch den Kopf. Die Herbeiführung des Todes eines Menschen ohne den Besitz der Lizenz, einen Menschen töten zu dürfen oder wenigstens der Lizenz NH4, die ein Experiment mit tödlichem Ausgang tolerieren läßt, wenn nicht fahrlässig gehandelt wurde, führt zum Ausschluß aus der Siedlerschaft und unter Umständen sogar zum Verlust von Elementarlizenzen, die einem Neugeborenen zugestanden werden. All seine Lizenzen gehen an die Nachkommen des Getöteten über. Martin wurde zunehmend übler. Als er die Kammer nach langem Zögern öffnete, übergab er sich und brach zusammen.
Der Kybernet entsorgte die kläglichen Reste des Experimentes und einer verkrachten Existenz, wie Martin Grund nun selbst eine war.
***
Die Urteilsverkündung war kurz und schmerzvoll.
Ihm blieben 12 Stunden, um die Siedlung zu verlassen, die er nie wieder betreten dürfte, ausgenommen er würde für ein Experiment bis Lizenz NH4 benötigt. Die Aberkennung aller Lizenzen und Rechte verbietet Martin Grund im Beisein von Siedlern einen Namen zu führen, da er ab sofort zur vogelfreien NULL-Kategorie zählte.