Madeleine Lemmont 1

Man verlor so schnell sein Gefühl für Raum und Zeit, wenn man sich andauernd auf Raumstationen oder im All herumtrieb. Die ewige Dunkelheit, mehrere Sonnenauf- und -untergänge innerhalb der üblichen Wachspanne. Das zehrte an den Nerven. Viele sagten, dass man sich daran gewöhne. Madeleine mochte das so wohl nicht unterschreiben. Vielleicht genügten aber auch drei Einheitsjahre dafür nicht.
Aus ihren ererbten Erinnerungen konnte sie nicht zehren, da ihre Vorfahren und ihre vorangegangenen Inkarnationen sich bisher nicht der Raumfahrt verschrieben hatten. Doch dies schien einfach zu verlockend. Anfangs.

Sie streckte sich auf der Pritsche. Ihre Muskeln waren etwas verspannt. Vielleicht schwanden sie auch einfach zu schnell. Trotz des regelmäßigen Trainings.
Sich auf den Rücken drehend legte sie ihre Arme in den Nacken und blickte zur metallisch glänzenden Decke auf. Doch sie nahm die nicht wahr. Ihre Gedanken glitten erneut davon.

Vor über 100 Jahren hatten ihre Urgroßeltern Intaki Prime verlassen, da es dort für eine Familie schlicht nicht mehr sicher genug war.
Alentene III war aber verglichen mit Intaki Prime schon fast ein Eisklumpen. Das wusste sie anschaulich, da ihr die Erinnerungen einer Frau übertragen wurden, die vor nunmehr 36 Einheitsjahren im Sterben gelegen haben musste. Jene hatte die tropische Gluthölle von Intaki Prime noch selbst gekannt, bevor auch sie nach Alentene III gelangte.
Madeleine hatte sich nie mit den Details dieser Übertragung befasst und wollte diese auch nicht kennen. Wohl aber empfand sie ein wohlwollendes Gefühl für diese Tradition, die Wissen und Erinnerungen vergangener Generationen bewahrte. Wahrscheinlich lag darin auch die Quelle der pazifistischen Grundeinstellung vieler wiedergeborener Intaki.

Die geografische Nähe Alentenes zu Cistuvaert war wohl der offensichtlichste Grund, warum sie sich seinerzeit in die Akademie des „Center for Advanced Studies“ eingeschrieben hatte. Dort hatte sie eine Kommilitonin namens Venus LeMercantes kennengelernt. Sie teilten unter Anderem ihre Abstammung als wiedergeborene Intaki. Man konnte sich nicht mit jedem über derlei Erfahrungen austauschen. Schon gar nicht den angeberischen, ethnischen Gallente an dieser Akademie.
Venus hatte Wirtschaft belegt und gründete die Divide et Impera unmittelbar nach ihrem Abschluss. Madeleine verblieb noch zwei weitere Semester auf der Akademie und verschrieb sich danach als Mitarbeiter der DEIDE Corp. zwischenzeitlich planetarer Wirtschaft. Diese erwies sich jedoch letztlich als wenig einträglich.

Venus erkrankte an einer schnell tödlich verlaufenden, ererbten Nervenkrankheit. Diese wirkte sich auch auf ihre Klone aus, die schon im Inkubationstank starben. Nachdem sie Madeleine die Führung der DEIDE übertragen hatte, bestieg sie ihre Kapsel und machte sich mit einem Shuttle auf den Weg zum EvE Gate. Sie flog ohne Rückendeckung eines Klons in die unsicheren Gebiete New Edens. Madeleine sah sie nie wieder.
Die Zeit verging, das Unternehmen wuchs zusehends. Doch machte es sie nicht glücklich. Die ewige Dunkelheit… Depressionen. An manchen Tagen vermochte sie sich nicht aufzuraffen und ihr Quartier zu verlassen oder ihren administrativen Aufgaben nachzugehen.
Aus organisatorischen Gründen musste das Hauptquartier der DEIDE Corp. nach Paara verlegt werden. Mitten im Caldari Raum. Ausgerechnet.

Madeleine hatte nichts gegen die Caldari an sich. Die Erinnerungen ihrer Vorgänger wiesen keinerlei Konflikte mit Caldari auf. Wohl aber mit den großmäuligen Gallente. Aber auf eines verstanden sich die Gallente halt. Sie verbanden Schönheit mit Komfort und Zweckmäßigkeit. Das ging den Caldari leider scheinbar völlig ab.
Ihr Quartier war zweckmäßig. Mehr aber auch nicht. Nackte, bläulich schimmernde Metallwände. Alles wirkte kalt und unnahbar. Sie vermisste ihr Quartier an der Akademie in Clellinon. Sie vermisste die wärmende, riesige rote Sonne und den einsamen Mond von Alentene III. Das war kein Vergleich zum von Monden wimmelnden Himmel Intaki Primes. Aber es hatte etwas unglaublich Beruhigendes.
Paara war und ist ein Durchreisesystem. Nur wenige verweilen hier. Die bewohnbaren Welten waren jedoch nichts für Madeleine. Sie waren heiß, wiesen extreme Wetterphänomene auf und waren Welten hoher Schwerkraft. Sie lebte hier also ständig auf Station. In scheinbar ewiger Dunkelheit…

Sie setzte sich langsam auf und schwang die Beine von der Pritsche. So saß sie eine Weile bis ihr Blut vernünftig zirkulierte. Auch dies schien von Tag zu Tag oder von Wachperiode zu Wachperiode immer länger zu dauern. Die geringe Schwerkraft auf der Station machte ihr zu schaffen.
Mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging sie auf die enge Sanitärkammer zu. An Bord von Raumstationen konnte man keinen Platz verschenken. Das war ihr bewusst. Aber mussten sie deswegen so unheimlich trist und karg aussehen? Sie stützte sich auf das Waschbecken und wendete das Gesicht vor dem Spiegel, während sie ihre tief liegenden, dunkel geränderten Augen begutachtete. All diese Hässlichkeit würde in wenigen Minuten unter einem kunstvollen Makeup verschwunden sein. Doch lange konnte sie dies sicher nicht mehr vor ihren Angestellten verheimlichen. Es brächte sie früher oder später um.

Viele Aufgaben ließen sich auch problemlos aus der Ferne bewerkstelligen. Sie würde wohl zumindest eine zeitlang in das Büro nach Luminaire 7-1 wechseln. Sie musste einfach mal wieder eine gallentische Einrichtung um sich haben. Außerdem konnte sie auf Caldari Prime, der auch als Luminaire VII bekannt war, endlich mal wieder festen Boden unter ihren Füßen spüren.
Diese Gedanken erhellten ihr Gemüt. Mit beschwingtem Schritt lief sie zur Kombüse und bereitete sich ein schnelles Frühstück zu, dass sie genussvoll verzehrte. Dass noch eine Menge Büroarbeit auf sie wartete, störte sie plötzlich gar nicht mehr. Irgendwie freute sie sich sogar darauf. War es doch nur der Countdown für ihren Start. Licht statt Dunkelheit. Sonnenauf- und -untergänge, wenn sie tatsächlich an der Reihe waren. Einfach. Wundervoll.

Oktavius Aera Servantes 1

„Meine Eltern waren Diener eines Herren. Ich war Diener der Navy. Ich wurde verwundet. Ich habe es überlebt. Jetzt bin ich mein eigener Herr und ein freier Ni-Kunni.“
So brachte Oktavius seinen Werdegang bei seiner Bewerbung für die DEIDE Corp. recht zielsicher auf den Punkt.

Selbstverständlich kannte auch er Zwischentöne. Die Amarr wurden oft als Sklaventreiber verachtet. Viele von ihnen mochten auch gnadenlos sein. Seine Eltern arbeiteten seit Generationen im Umfeld der Tash-Murkon Familie. Seine Herren ermöglichtem ihm, Oktavius Aera Servantes, sich für den Dienst in der Navy ausbilden zu lassen.
Man hielt sie nicht wie Rechtlose sondern eben wie Bedienstete. Dies mochte durchaus auch daran gelegen haben, dass Oktavius, seine Eltern und Großeltern zum Beispiel vom Blute der Ni-Kunni und damit im Grunde keine Feinde des Imperiums waren. Man hatte jeder Generation Gelegenheit gegeben sich freizukaufen. Oktavius hatte diese Gelegenheit nun genutzt. Auch oder gerade wegen des Widerstandes seiner Mutter gegen sein Vorhaben Kapselpilot zu werden. Man sei doch versorgt, sagten sie. Man habe es gut.

Ja, das mochte alles wahr sein. Wahr war aber auch, dass es im Dienste eines Amarr keine Abenteuer zu bestehen gab. Nun ja. Er war jung. Und dumm.
Er besuchte die Imperial Academy von Deepari erst relativ spät in seinem Leben. Eigentlich war er aus Sicht seiner Mitbewerber längst ein alter Mann. Doch er hatte es noch immer drauf. Viele Jahre intensiven Trainings und vor allem aktiver Praxis haben ihn zu Titanium werden lassen. Seine Zeit als Fighterpilot war natürlich vorbei. Das war klar. Da konnte er den jungen und ihren Reflexen nichts mehr entgegensetzen.
Aber er war noch längst nicht abgeschrieben. Er fühlte sich als Kapselpilot in Fregatten auf Zerstörern und auch in Kreuzern wohl. Unsterblichkeit hatte zweifellos etwas für sich und übte einen magischen Reiz aus. Dem konnte man sich auch im Alter nicht entziehen, wenn man seine Kräfte schwinden fühlte. Wenn sich die Haut wie Pergament spannte und immerzu juckte oder brannte. Wenn die Muskulatur womöglich die Darmwinde nicht mehr so zuverlässig zurückhielt.

Ja. Er war ein alter Sack. Er rülpste und furzte. Aber er war auch ein verdammt gut geschulter Pilot. Sein großes Abenteuer wartete noch auf ihn. Er war noch nicht durch mit seinen Hoffnungen und Träumen. Er würde hinaus gehen. Eintauchen in die gefährliche Welt des ungeschützten Raumes. Womöglich in Systeme, die man mit klassischen Sternentoren nicht zu erreichen vermochte, deren innere Energie aber immer wieder Schlupflöcher bis in den bekannten Raum bohrte. Oh ja. Unsterblichkeit hatte zweifellos etwas für sich. Er würde dafür jedoch weiter lernen und trainieren müssen.
Er mochte taktisch versiert sein. Er mochte Schiffe ausreichender Feuerkraft bewegen können. Und dennoch sollte es in den Tiefen des Raumes noch Herausforderungen geben, denen er sich heute nocht nicht gewachsen fühlte.

Die Implantate begannen zu kribbeln. In Gedanken rieb er seine Kopfhaut, wobei er die kleinen Störenfirede deutlich ausmachte. Er hasste diese Dinger. Doch nur sie erlaubten ihm, sich noch während seiner verbleibenden Lebensspanne genug Wissen und Fähigkeiten anzueignen, um in den wahren Tiefen des Alls zum Wohle seiner neuen Herren in der DEIDE Corp. für Sicherheit zu sorgen.

Pearl Canopus 1

Pearl saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden seines Quartiers. Seine Arme lagen locker auf seinen Oberschenkeln, die Hände nach oben gewandt. Er fühlte imaginäre Sonne auf seinem Gesicht. In seiner Meditation ging es ihm um den Einklang von Konzentration und Entspannung.
Die recht typischen Visionen eines Stargazer, auch als Astrologen oder Seher umschrieben, empfand er eher als verstörend und lästig. Sie boten ihm wirre Informationen, die er nur selten zu deuten verstand. Außerdem war seine Suche nach dem Verständnis des Universums und absolutem Wissen seit langer Zeit ins Stocken geraten. Zu viele Verpflichtungen lasteten auf seinen Schultern. Während er sich zu entspannen versuchte, wanderten seine Gedanken dennoch rastlos umher.

Das Leben als Kapselpilot hat ihm die Chance gegeben, die Suche nach Wissen und Erkenntnis im All voranzutreiben, ohne ernsthaft um sein Leben und damit sein Werk fürchten zu müssen. Diese Sicherheit bot ein verdammt gutes Gefühl.
Seinem Vater, Friede seiner Seele, gefiel dieser Gedanke überhaupt nicht. Er verbrachte einen großen Teil seiner wenigen, freien Zeit in Meditation. Ihm ging es allein um den inneren Frieden und die Erleuchtung. Pearl respektierte dies selbstverständlich. War es doch das Dogma des Ordens, dem sein Vater zeit seines Lebens angehörte. Er entstammte einer langen Ahnenreihe von Astrologen. Dieser Begriff täuscht allerdings über den spirituellen Hintergrund seiner Blutlinie hinweg.
Sie führten häufiger intensive Gespräche, nachdem Pearl seine Volljährigkeit erreicht und sich stattdessen dem „Pfad des allumfassenden Wissens“ angeschlossen hatte. Letztlich respektierte sein Vater jedoch auch seine Entscheidung. Männliche Achura waren für ihren Pragmatismus bekannt. Es war seinem Vater am Ende des Tages wichtiger, dass Pearl den spirituellen Auftrag und Weg seines Volkes lebte, wenngleich die Methoden des Ordens nicht seine ungeteilte Zustimmung fanden.
Der „Pfad des allumfassenden Wissens“ oder besser dessen Sensei predigte die Ãœberlegenheit des Wissens über den Weg zur Erkenntnis. Im übertragenen Sinne heißt dies in etwa: „Feinden des Volkes sowie des Wissens und der Erkenntnis bringt man keinerlei Mitleid entgegen.“
Gelebt wird dies meist defensiv. Gib nicht den ersten Schuss ab aber zerstöre was sich dir hartnäckig in den Weg stellt.

Pearls Mutter hatte sich mit der Lebensweise der Achura arrangiert und verfügte über ein tiefes Verständnis für deren Spiritualität. Sie war Intaki und die Tochter eines Offiziers der Mordu’s Legion. Sie wurde viel zu früh durch Gurista Schergen aus dem Leben gerissen, die einen Hilfs-Konvoi im Niedrigsicherheitsgebiet aufbrachten und eben keine Gefangenen machten. Er war damals gerade einmal elf oder zwölf Jahre alt. Vielleicht mochte dies ein wenig zu Pearls Radikalisierung beigetragen haben.
Von ihr, so erinnerte er sich, hatte er wohl den Sinn für das Schöne und nicht zuletzt seine roten Haare geerbt. Naja zumindest die, die ihm geblieben waren. Er musste unwillkürlich schmunzeln.

Die Achura waren stets ein stolzes, kultiviertes und zurückhaltendes Volk. Nachdem sie von Saisio III evakuiert werden mussten, versuchten die Caldari sie recht schnell zu assimilieren. Pearls Ahnen haben sich für den Erhalt ihrer Traditionen und gegen eine Vereinnahmung durch den Caldari State entschieden. Doch letztlich wurden sie von der Wirklichkeit da draußen eingeholt. Wer nicht für eine der Caldari Mega-Corps arbeitete, galt quasi als vogelfrei und genoss im Grunde keinen Schutz. Polizei und Navy hin oder her. Piraten nutzten dies schamlos aus. Sie plünderten und brandschatzten.
Die Ära der Kapselpiloten ließ unter Anderem den „Pfad des allumfassenden Wissens“ entstehen, der die neuen Möglichkeiten und den bestehenden Glauben in Einklang brachte. Viele Achura traten in den Dienst von Corporations und begannen brav Steuern zu zahlen.

Pearl begann eine Ausbildung zum Kapselpiloten in der wirtschaftlichen Fakultät der „Schule des angewandten Wissens“. Dies war letztlich auch dem Umstand geschuldet, dass seine Familie ein Leben an der Armutsgrenze führte. Er begann im Bergbau. Er verdingte sich bei Agenten. Er kaufte Erze an und verkaufte daraus gewonnene Mineralien an großen Handelsposten. Nicht alles was er anfasste wurde zu Gold. Doch er konnte erstaunlich gut davon leben. Und sterben und dann wieder leben…
Mal verlor man, mal gewann man. Man sammelte zweifellos Erfahrung. Aber eben kein Wissen…

Als er sich in der Liberavis Corp anschloss hoffte er, dass sich aus der Gemeinschaft neue Gelegenheiten ergäben. Doch es folgten nurmehr weitere Pflichten und Beschränkungen. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Es konnte nur eine logische Konsequenz geben.

Ende März YC115 schloss er sich der DEIDE Corp an. Ihre Geschäftsführerin, die hinreißende und charismatische Madeleine Lemmont, inspirierte ihn. Vielleicht war er auch ein wenig verliebt. Warum auch nicht. War sie doch, wie seine Mutter auch, eine attraktive Intaki. Doch es lag ihm nicht, ihr gegenüber seine Gefühle offen zu zeigen. Wahrscheinlich war er ohnehin viel zu alt für sie. Sie waren einander sympathisch und man konnte zumindest von einem freundschaftlichen, vertrauten Verhältnis sprechen. Dies mochte wohl auch der Grund für seine recht frühe Ernennung zum Direktor gewesen sein.

Trotz des verantwortungsvollen Amtes hatte er nun erheblich mehr Raum zur Ausübung seiner Meditationen und zum Leben seines Glaubens.
So saß er nun hier mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden seines Quartiers und versuchte noch immer Konzentration und Entspannung in Einklang zu bringen. Nach einigen, tiefen Atemzügen nahm er wieder die imaginäre Sonne auf seinem Gesicht wahr.

Oktavius Aera Servantes 2

Es gab Tage, da machten einen diese Implantate wahnsinnig. Besonders wenn er häufigen Druck- und Temperaturwechseln ausgesetzt war.
Gerade erwischte sich Oktavius wieder dabei, wie er in Gedanken die alten Narben kratzte.

Er wurde nicht gern herbei zitiert. Von einem Gallente. Noch dazu einer Frau. Er wusste nicht, was schlimmer wog. Ihm war bewusst, dass Rassenschranken in der Corp nicht galten. Dies bedeutete dann durchaus, dass man Mitglieder einfach mied, die der alten Feindbildfraktion angehörten.
Aus irgendwelchen Gründen mochte er auch die Gallentische Architektur nicht. Ihr fehlte jeder Schmuck. OK, die Amarr mochten es eher pompös und ausladend. Verschwenderisch. Das lag ihm auch nicht sonderlich.
Aber dies grünblau schimmernde Werks hier in der Station wirkte irgendwie… steril.

In vielerlei Hinsicht mochte das aber alles auch auf Gegenseitigkeit beruhen. Der Zoll hatte ihn aufmerksam gescannt, nachdem er ins Hoheitsgebiet der Gallente einflog. Sein Verhältnis zur Fraktion war angespannt aber bislang nicht kritisch. Man ließ ihn ungehindert passieren. In seinem unbewaffneten „Leopard“-Shuttle stellte er aber auch keine Gefahr für irgendjemanden dar. Und ja, das musste man den Minmatar lassen. Sie bauten verdammt gute Fluchtvehikel. Er grinste…

Eine junge Dame trat ein und räusperte sich leise, um Oktavius‘ Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es gelang ihr. Er blickte auf. „Bitte?“ sagte er etwas harscher als er es eigentlich wollte.
– „Madmoasell Lemmong bittad sie erein…“ Das war irgendwie niedlich. Er musste schmunzeln. Klang zwar irgendwie affektiert aber auch süß. Er lächelte die Kleine an, als er sich aus dem Sitzpolster herauswand. Sie lächelte zurück. Wenn auch etwas mechanisch oder abwesend.
Oktavius rügte sich selbst: ‚Sie könnte deine Enkelin sein, du Lustmolch!‘
Im Vorübergehen deutete er schmunzelnd eine galante Verbeugung und einen Handkuss an. Madeleines Assistentin schien überrascht und verzückt zugleich zu sein. Ihr Lächeln wurde warm und ehrlich. Er konnte es immer noch.

Die Tür schloss sich hinter ihm mit einem leisen Zischen. Madeleine stand an einem Fenster und blickte scheinbar gedankenverloren in die Dunkelheit des All hinaus. Oder aber auf die Geschäftigkeit des Hangars. Doch sie schien sich bereits gesammelt zu haben, wandte sich ihm zu und begrüßte ihn mit gewohnt freundlicher Art.
– „Willkommen Oktavius!“ sagte sie. „Ich hoffe sie hatten eine angenehme und kurzweilige Reise?“
– „Ja, danke der Nachfrage, Madeleine. Weshalb haben sie mich her zitiert?“
– „Oktavius, bitte, das klingt nicht angemessen. Ich habe sie her gebeten, da ich beunruhigende Informationen vom Büro Paara erhielt. Nehmen sie doch bitte Platz.“

Oktavius setzte sich auf eine Art Sofa und versank umgehend wieder in den Polstern. Was fanden die Gallente nur an Sitzgelegenheiten, die einen zu verschlingen drohten…
– „Oktavius, ich erhielt beunruhigende Informationen…“
– „Sie meinen sicher die Kriegserklärung der…“
– „Nein, Oktavius, es ging dabei um Sie.“
Oktavius zog die Augenbrauen verwundert hoch: „Um mich?“
Er mochte die Richtung nicht, die dieses Gespräch zu nehmen schien. Hatte ihn jemand denunziert? Ihn fälschlich einer Verfehlung beschuldigt?
– „Oktavius, ich respektiere Ihre Abstammung. Ich muss sie aber auch bitten, die unserer Mitarbeiter zu respektieren. Wir sitzen alle in einem Boot.“
– „Madeleine, ich bin mir überhaupt keiner Schuld bewusst…“
Sie hob die Hand und unterbrach Oktavius, bevor dieser erst in Wallung geriet.
– „Ich erhielt Beschwerden von Mitarbeitern aus den Reihen der Minmatar. Sie fühlen sich durch ihre besonderen Sicherheitsmaßnahmen diskriminiert.“
– „Ich habe Anlass zu der Annahme, dass diese Mitarbeiter tatsächlich ein erhöhtes Sicherheitsrisiko darstellen.“
– „Ich bitte sie doch nicht, nachlässig zu sein. Seien sie vielmehr verhältnismäßig. Wir können es uns nicht leisten, qualifizierte Mitarbeiter zu verlieren, weil sie, Oktavius, ein historisch gewachsenes Feindbild nicht auszublenden verstehen.
Ich muss Ihnen eine Ermahnung aussprechen, die auch in ihren Akten vermerkt wird. …“
– „Madeleine, sie zitieren mich hierher, nur um mir eine Rüge zu erteilen, die sie mir auch gut schriftlich hätten übermitteln können? Sie unterstellen mir, einen schlechten Job zu machen? Verzeihung meine Liebe, ich stelle meinen Rang und Titel gern zur Verfügung.“
Oktavius lief langsam rot an und hasste sich umso mehr dafür, da Madeleine so furchtbar gelassen blieb.
– „Nein,…“ sagte sie. „… mir liegen alle Mitarbeiter gleichermaßen am Herzen. Egal welcher Blutlinie sie entstammen. Ich habe sie zum CSO gemacht, weil sie dafür von allen meinen Mitarbeitern im Stab am besten geeignet waren und sind. Sie sind aus einem anderen Grunde hier.“
– „Oh…“ Oktavius lehnte sich zurück und versank prompt wieder tiefer im Polster des Sofas. „Ich höre.“
– “ Ich möchte, dass Sie mich für ein paar Stunden nach Caldari Prime begleiten. Ich muss annehmen, dass die Quartiere von Corp-Angestellten abgehört werden, wenn jene Unternehmen ihr Hauptquartier bei den Caldari haben.“
– „Und mich nennen sie paranoid?“ Oktavius musste unwillkürlich schmunzeln. Ihm war aber durchaus bewusst, wie recht Madeleine mit ihrer Annahme haben dürfte. Wertete er doch selbst regelmäßig Bänder der von Gallente und Minmatar bewohnten Quartiere des Unternehmens aus. Vorsicht war bekanntlich besser als Nachsicht.


Er vermochte sich kaum zu erinnern, wann er zuletzt einmal seinen Fuß auf einen Planeten gesetzt hatte. Dieses Gefühl unermässlicher Schwere setzte ihm zu. Er hielt sich eigentlich für fit. So fit man in seinem Alter halt sein konnte. Doch Caldari Prime schien ihn in die Knie zwingen zu wollen.
– „Geben sie mir bitte ein paar Minuten, Madeleine.“ sagte er. „Ich möchte nicht halb von ihnen getragen werden, wie ein gebrechlicher, alter Sack.“ Er fragte nicht, ob dies wirklich notwendig gewesen sei. Wusste er doch genau, dass dem so war.
Vom Spaceport waren sie einige hundert Kilometer mit einem winzigen Shuttle geflogen und in der Nähe eines Küstenstreifens gelandet. Die Sonne stand hoch, wenn auch nicht mehr im Zenit. Die Meeresbrise verschleierte ihre wärmende Kraft. Madeleine hatte ihn gebeten, eine silberhaltige Sonnenschutzemulsion mit einem Schutzfaktor nahe 100% Abschirmung aufzutragen. Der Schaden des giftigen Schwermetalls wöge weniger schwer als die relativ spontanen Hautreaktionen, wenn man Sonne nicht in dieser Form der Dosierung gewohnt war.

– „Setzen sie sich doch zu mir, Oktavius!“
– „Nehmen sie es bitte nicht persönlich, Madeleine, aber ich bleibe lieber stehen.“
– „Oktavius…“
– „Nein, es ist nur… Ich bin sicher, dass ich einmal am Boden nicht wieder von jenem los käme. Die Schwerkraft…“
– „Oh… verstehe. Nun was ich mit ihnen zu besprechen habe ist aus Sicht des Unternehmens nicht geheim aber auch nicht für jedermanns Ohren bestimmt.“
Oktavius sah sie nur schweigend an. Daher fuhr Madeleine fort.
– „Es gibt Bestrebungen, die Aktivitäten der DEIDE in die Tiefen des Alls zu tragen. Wie auch immer diese ausfallen mögen, ich würde es begrüßen, wenn sie zumindest zeitweise dort unsere Interessen vertreten würden. Ich bin mir recht sicher, dass sie, mein lieber Oktavius, diese Ãœberlegungen selbst bereits einmal angestellt haben. Zumindest würde ich mich in ihnen getäuscht haben, wäre dem nicht so.“
– „Ja, sicher. Ich bin kein Typ, der lange an einem Platz verweilt. Miglied eines bürokratischen Apparates zu sein, war nie mein Ziel.
Aber verstehen sie mich richtig, Madeleine, ich fühle mich noch nicht bereit für diesen Schritt.“
– „Fassen sie Mut und zeigen sie Präsenz. Bringen sie sich ein. Ich kann nicht ausschließen, dass dies die Chance für eine Zukunft dieser Corporation darstellen könnte. Für deren wirtschaftlichen Fortbestand.“
– „Meinen Sie nicht, dass Pearl Canopus dafür besser geeignet wäre?“ Oktavius rieb sich nachdenklich das Kinn.
– „Ich denke nicht, nein. Pearl ist ein großartiger Denker. Aber er ist kein Macher. Es nützt mir nichts einen Strategen in den tiefen Raum zu entsenden. Ich benötige ihn hier. Er ist ein wirtschaftlicher Aktivposten.“
– „Und ich bin entbehrlich?“
– „Oktavius, ich bitte sie. Sie sind ein militärischer Aktivposten. Ich hätte sie als CSO auch gern hier. Allerdings vermute ich, dass sie nur ein geringes Bedürfnis verspüren, in Luminaire oder Lustrevik zu wirken. Von Paara muss ich sie jedoch eine Zeitlang abziehen. Für einen Regionalleiter Amarr haben wir jedoch zu wenig Präsenz im Imperium. Sie würden sich nur langweilen.“
– „Madeleine, ich bin mir nicht sicher, ob ich sie gerade richtig verstehen möchte. Es klingt ein wenig nach einem Hinauskomplimentieren. Sagen sie tatsächlich gerade ‚Stationsleiter in Gosalav oder Verbindungsoffizier im tiefen Raum‘ zu mir?“
– „Oktavius, bitte missverstehen sie mich nicht… aber ja. Im Grunde ist es genau das, was ich ihnen sagen wollte. Sie haben eben eine bestimmte Art, solcherlei Dinge auf den Punkt zu bringen. Allerdings sehe ich auch die Gelegenheit darin, dass sie unsere Präsenz bei den Amarr bis in die Regionen Khanid und Devoid ausdehnen. Verschaffen sie sich dort Gehör, machen sie uns bekannt bei den Agenten der Region.
Und wann immer sich ihnen die Gelegenheit bietet, unterstützen sie unsere Mitarbeiter in den unbekannten Tiefen des Alls.“
– „Wie lange habe ich Bedenkzeit?“
Oktavius verschränkte die Arme. Was zum Henker war daran jetzt wert, sich auf irgendeinen einen Planeten in der Förderation verschleppen zu lassen. Aktivitäten im Hochsicherheitsraum waren ja für gewöhnlich nicht geheim. Wie denn auch.
– „Nehmen sie sich die Zeit, die sie brauchen, Oktavius.“
– „Warum bin ich hier, Madeleine?“
– „Ich wollte mich mit ihnen ungestört unterhalten…“
– „Warum sind wir HIER?“ Oktavius wies mit beiden Zeigefingern vor sich auf den Boden.
– „Schauen sie sich um. Die unverhüllte Schönheit…“
– „Madeleine, bitte, ich kenne sie. Sie wissen, dass ich weder ihren Sinn für Ästhetik noch den für Planeten mit spürbarer Schwerkraft teile. Also bitte, warum sind wir hier, warum bin ich HIER?“
– „Oktavius, es fällt mir schwer darum zu bitte…“ Er wartete geduldig. „…es könnte sein, dass ich im Laufe der kommenden Wochen ihr Vertrauen und ihre Loyalität auf eine harte Probe stellen muss.“ Madeleine blickte ihn irgendwie hilfesuchend an. Er nickte ihr ermunternd zu.
– „Ich habe mich unglücklicherweise von ein paar zwielichtigen Zeitgenossen in eine scheinbar ausweglose Lage bringen lassen, die mich Geld und Leben kosten könnte. Obwohl ich wahrlich kein Freund solcher Maßnahmen bin, kann ich gezwungen sein, sie in Bälde um einen heiklen Gefallen bitten zu müssen…“
– „Madeleine, wie lange kennen wir uns inzwischen? Sie haben im Sinne des Unternehmens gehandelt und wurden ausmanövriert, wie es jedem von uns schon mal ergangen ist. Sie möchten, dass ich ihren Widersacher außerhalb der Kapsel ausschalte, was der Sache eine gewisse Endgültigkeit verleiht. Daran ist nichts heikel oder anstößig. Das ist vielmehr gängige Praxis.“ Oktavius hob nur kurz die Schulter. Es war ihm wirklich gleichgültig. Er war Pragmatiker und er war Militär.
– „Oktavius, ich denke die Sachlage könnte sich als weniger eindeutig erweisen. Es handelt sich um einen Leutnant der Imperial Navy. Und genau genommen habe ich ihn betrogen.“
– „Madeleine, ihr Gewissen in Ehren. Sie haben im Sinne und zum Wohl der DEIDE gehandelt. Ich habe der DEIDE meine Treue geschworen und wurde durch sie mit der Verantwortung einer Führungsposition betraut. Es ist meine Bestimmung, Loyalität gegen jeden äußeren Feind zu beweisen. Und dies werde ich tun. Das ist eine Frage der Ehre.“
– „Sie ahnen gar nicht, wie erleichtert ich bin, dass sie das so sehen. Es wird weitere Schach- und Winkelzüge in unserer Politik geben müssen. Nicht jeden kann ich im Vorfeld mit allen diskutieren. Ich danke ihnen für ihren Beistand.“
Oktavius breitete die Arme etwas aus.
– „Was haben sie erwartet? Ich stehe zu ihnen und zur DEIDE. Das gilt auch dann, wenn sie mich wahrscheinlich mit Recht kritisieren. Ich bin schon sehr, sehr lange kein kleines, quängelndes Kind mehr.“

Als sie zum Flyer zurück gingen, lief Madeleine voraus. Oktavius war halt nicht sehr gut zu Fuß. Sie lächelte versonnen. Sicherlich hätte sie Oktavius alles auch schriftlich auftragen können. Dann wäre es aber nichts gewesen, was er hätte unbedingt tun wollen.
Doch weil sie so schnell voraus ging, konnte sie auch das verschmitzte Lächeln auf Oktavius Lippen nicht wahrnehmen. War er doch nicht aus der Sklaverei entkommen und über 60 Jahre alt geworden, ohne wenigstens ein kleines bisschen an Lebensweisheit zu gewinnen. Oh, ja, Madeleine war liebenswert… für eine Gallente… und clever. Er wollte ganz sicher nicht ihr Feind sein.

Pearl Canopus 2

Nachdem er seit langem mal wieder eine Reise durch einen Großteil des Hochsicherheitsgebiets New Edens hinter sich hatte, gönnte sich Pearl etwas Ablenkung. Im Casino hatte er einer überaus attraktiven, erotischen Tänzerin einen Tageszugangscode für sein Quartier zugesteckt. Dieser stellte zugleich die Zahlung von etwa 100.000 Kredits in Aussicht.

Viele dieser Mädchen wurden aus der Sklaverei befreit und waren nun zu Heimatlosen geworden, die sich ihren Lebensunterhalt mit vollem Körpereinsatz verdienen mussten. War das der erhoffte, gesellschaftliche Aufstieg. Pearl mochte das nicht recht verstehen. War es doch die Jagd nach vergänglichen Werten, nach Wohlstand und die Sehnsucht nach Sorglosigkeit, die diese Menschen umtrieb.
Er wusste, dass derlei Werte in der heutigen, rein kapitalistischen Kultur längst nicht mehr existierten. Ihm verschaffte Geld lediglich die Möglichkeit, der Suche nach Wissen und Erleuchtung nachzugehen. Doch heute Abend sehnte er sich nicht nach Erleuchtung sondern der profanen Befriedigung körperlicher Bedürfnisse.

An der Tür erklang ein Signal. Pearl öffnete und ließ die sich scheu umblickende Kleine ein.
– „Keine Sorge, Miss, ich werde sie schon nicht fressen.“ sagte er.
– „Sir, ich bin nicht sehr geübt im gesellschaftlichen Umgang.“ Sie sprach leise.
– „Nennen sie mich Pearl, Miss.“
– „Ist das nicht ein Name für eine…“
Pearl musste lächeln und unterbrach sie.
– „Eltern meiner Blutlinie nutzen durchaus subtile Mittel, ihre Kinder zu quälen.“
Als ihm ein lautes, bellendes Lachen entfuhr, wandte sich das Mädchen erschreckt zu ihm um, wich aber nicht zurück.
– „Ich beiße wirklich nicht.“ sagte er lächelnd. „Darf ich Ihren Namen erfahren, Miss? Oder pflegen Sie nur anonyme Transaktionen?“
– „Meine Eltern nannten mich Samamuni.“ sagte sie ebenfalls leise.
– „Darf ich sie Sam nennen? Dann hätten wir beide ein Schmunzelgeheimnis… Sam und Pearl.“
– „Ist mir recht. Mir hat man schon viele Namen gegeben. Nicht alle waren schmeichelhaft.“
Ein Lächeln schwebte um ihren sinnlichen Mund. Pearl hätte sie am liebsten küssen mögen. Doch ihm war bekannt, dass diese Form der Zärtlichkeiten im Escort-Gewerbe eher unüblich war.
Er nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände. Sie legte ihre umgehend auf die seinen, stets bereit, diese von ihrem Gesicht zu reißen. Doch sie zog nicht an seinen Händen und er sah ihr lange in die Augen und murmelte ihr ein paar Worte eines alten Meditationsmantras zu. Daraufhin ließ sie ihre Hände fallen, als wären sie plötzlich schwer geworden und stand einfach nur ruhig da.
Pearl blickte in tiefe, braune Augen mit einer sanften Andeutung einer Mandelform. Sie erwiederte seinen Blick nun ohne jegliche Unruhe.
Ihre jugendliche Haut wirkte unter seiner Beleuchtung wie heller, rötlich-brauner Ton. Sie wirkte natürlich und jugendlich auf ihn. Da schwang eine Menge Vherokior Blutlinie in ihren Zügen mit. Er schätze sie auf Mitte bis Ende Zwanzig.
Langsam ließ er seine Hände sinken und spürte ihre tiefe Entspannung. Er legte seine rechte Hand sanft auf ihren Rücken und geleitete sie so zu einen funktionalen Divan, auf dem sich Sam mit keusch geschlossenen, seitwärts angewinkelten Beinen niederließ.
– „Ich hätte einen lieblichen Weißwein von Caldari Prime oder aber einen Amarrianischen Sekt im Kühlschrank. Möchtest du ein Glas mit mir trinken, Sam?“
– „Den Weißwein würde ich gern probieren, Pearl. Aber verzeih mir, wenn ich auf Genüsse der Amarr eher verzichte.“
Er nickte und schenkte ihnen beiden jeweils ein Glas Weißwein ein und stopfte den Korken wieder ein Stück in die Flasche zurück. Die Gläser klangen einige Sekunden nach, nachdem sie angestoßen hatten.

Wenn Pearl auch auf rein gefühlsmäßiger Ebene oftmals ein wenig unterkühlt wirken mochte, verstand er sich doch auf Etikette. Auch empfand er durchaus Genuss an weiblicher Gesellschaft. Sam war angenehm ruhig, höflich und zurückhaltend.
Pearl hatte es auch schon mit polternden Trampeln zu tun. Temperamentvolle Frauen mochten seine inneren Spannungen zwar lösen können, verschafftem ihm jedoch keine Befriedigung. Ein solcher Akt war mehr mechanischer als emotionaler Natur. Sicher hatte das animalische auch seine angenehmen Seiten. Sollte Sam an einer sexuellen Begegnung interessiert sein, würde er aber einer eher emotionalen Befriedigung zweifellos näher kommen können.

Es überwältigte ihn trotz des obligatorischen Schutzes. Sie ließ sich ohne Widerspruch oder Hinterfragen auf die schon fast an Meditation grenzenden, überlieferten, tantrischen Übungen ein. Pearl erlebte eine sinnliche Woge nach der nächsten, ohne auch nur ein einziges Mal seinen Liebessaft zu vergießen. Aus seinen suchenden und findenden Händen schien Energie in sie zu fließen. Als auch sie sich aufzubäumen begann, ließ er sich fallen. Wärme und Geborgenheit. Lust und Entspannung. Tiefe Vertrautheit. Oder kurz gesagt das hinterlistige Spiel der Hormone.

Am nächsten Morgen drehte er sich zu ihr um, als sie auf der Bettkante saß, ihr schwarz-braunes Haar mit den Händen hochwarf, um es aus dem eben übergetreiften Hemd zu heben.
– „Ich möchte dir danken.“ sagte Pearl. „Es ist sehr lange her, dass ich solche angenehme und anhaltende, positive Schwingungen verspüren durfte. Ich könnte dich lieben lernen.“
– „Versteh mich nicht falsch, Pearl, du bist herzlich und gütig und zweifellos liebenswert. Ich habe bisher auch noch nie solche Beben der Lust verspürt. Aber ich gehöre nicht hier her. Und du bist sicher nicht der Mann, mit dem ich lange glücklich und zufrieden leben könnte. Du bist Kapselpilot. Kapselpiloten sind anders. Die Unsterblichkeit verändert Menschen.“
Obwohl Pearl überzeugt war, dass sie nur Gründe vorschob, um ihn von der viel simpleren Wahrheit abzulenken, nickte er verständnisvoll. Natürlich war er zu alt für sie. Er hätte fast ihr Vater sein können. Sie hatten ein wirtschaftliches Arrangement getroffen und er hoffte auf mehr, da er die Schwingungen der Einheit zu verspüren glaubte. Doch mehr würde es nicht geben. Seine Erinnerung würde genügen müssen.
– „Sam, es bedeutet mir viel, dich kennengelernt zu haben. Danke. Für Alles…“

Als sie sich zum Gehen wandte, deutete sie eine leichte Verbeugung und Pearl einen Handkuss auf ihre dargebotene Rechte an.
– „Lebe wohl.“ sagte er.
Sie lächelte geheimnisvoll und doch endgültig, als sie das Quartier mit laszivem Blick, wiegender Hüfte und ohne weiteren Gruß verließ. Pearl blickte ihr oder spürte vielmehr ihren Schwingungen den Flur entlang nach. Er würde seine gewonnene Energie mit einer kurzen, erfrischenden Meditation fokussieren und sich dabei auf die vor ihm liegenden Aufgaben konzentrieren.
Für den Abend stand ein weiterer Ausflug in die Tiefen des Hochsicherheitsraumes bevor. Und davor lag wieder eine unerfreuliche Menge bürokratischen Papierkrams. Unwillkürlich flammte vor seinem inneren Auge das Abbild von Madeleine auf, die sich seit Wochen wieder in der Förderation aufhielt. Wie er diese Wahrnehmung deuten sollte, würde ihn wahrscheinlich wieder einige Zeit unbewusst beschäftigen.
Wie er seinem Spiegelbild auf einer glänzenden Fläche entnehmen konnte, hatte sich ein Lächeln auf seine Lippen gestohlen. Gestern hatte er zweifellos einen wundervollen und gar nicht profanen Abend.