Eine neue Welt 1

Das verhaltene Piepsen und klicken wirkte eher einschläfernd. Vermutlich hatte er auch schon ein Nickerchen hinter sich, denn er vermochte sich nicht an alle Einzelheiten der letzten Stunden zu erinnern.
Wäre nicht das nervige, rote Blinken, würde er noch nicht einmal glauben, dass es jene Ereignisse gegeben hatte. Doch der bedenklich in den gelben Bereich gesunkene Sauerstoffanzeiger ließ keinen Zweifel daran, dass er sein Hiersein einer Laune des Schicksals verdankte. Glück im Unglück.
Sein Schiff war vor etwa einer Stunde in den Orbit der unter ihm liegenden M-Welt eingeschwenkt, wie man in Pilotenkreisen die Welten nannte, die der historisch verbürgten Quelle der Menschheit – der Erde – so ähnlich waren, dass sich Leben von selbst entwickelte oder schon seinerzeit im Verlaufe des Exodus ansiedelte.
Er kannte die Welt nicht, denn er hatte seinem Computer die Navigationsentscheidung überlassen, während er sich um Schadensbegrenzung bemühte. Die Hülle seines Schiffes zeigte an mehreren Stellen Instabilitäten. Der Sauerstoffverlust ging auf ein nicht mehr zu stopfendes Leck zurück.
Mit austretendem Sauerstoff wollte er allerdings keine Landung wagen. Dann hätte er sich auch gleich von den Jurmala schrotten lassen können.

Die Jurmala sind ein stolzes, nomadisierendes Kriegervolk. Für gewöhnlich begegnete man ihnen nicht. Drum behaupteten auch die meisten Flieger, dass sie lediglich ein Hirngespinst seien. Er wusste es besser. Seit heute. Oder gestern.
Jurmala. Wenn ein Vertreter dieses Volkes den Namen aussprach, klang dies definitiv anders. Da aber die Wenigsten, die ihn zu hören bekamen noch darüber berichten konnten, blieb es irgendwann bei dieser Lautsprache. Er kannte noch einige andere Ausspracheweisen. Jurmala, Jarmul, Jurpala, Jipala, Chipala, Ripala, Reaper…
Die Jurmala nahmen, was sie bekamen. Sie lebten von der gemachten Beute, enterten Großtransporte, um an Lebensmittel und Bauteile zur Reparatur oder Aufrüstung ihrer Schiffe zu gelangen. Sie überfielen Agrarwelten, die sich nicht zu wehren wussten. Manchmal gaben sie sich als Götter aus oder nutzten den ihnen entgegen gebrachten Respekt für die Plünderung der planetaren Lager.
Auf Industriewelten wurden sie jedoch bisher nie gesehen. Offenbar wussten sie, dass jene meist gut verteidigte Stellungen besaßen.

Deren beliebtester Trick war es mit einer ihm unbekannten Technologie Schiffe aus dem Hyperraum zu reißen. Hatten diese keine Hyperraumtor-Generatoren an Bord, waren sie den Angreifern für gewöhnlich unterlegen und bezahlten dies mit ihrem Leben.
Alle ihm bekannten Aktionen mit dem Ziel, Jurmala aufzuspüren und zu eliminieren waren gescheitert. Entweder fand man sie nicht oder die Strafexpeditionen kehrten gar nicht erst zurück. Man nahm weithin an, dass Jurmala kannibalisch lebten, wenn sie denn überhaupt von Menschen abstammten.
Die Jurmala waren schlicht das Schreckgespenst der Cybaeanischen Galaxie.

Es war nur der exorbitant guten Bewaffnung seines Schiffes, seiner Kampfkenntnisse als Mitglied der Martian-Fraktion, dem notwendigen Glück und nicht zuletzt der hoffnungslosen Unterlegenheit der drei gegnerischen Jäger zu verdanken, dass er sich jetzt und hier überhaupt Sorgen um sein Überleben bei einem Landeversuch machen konnte.
Taktisch waren die Jurmala auf höchstem Niveau. Trotz massiver Überlegenheit in seiner Angriffsstärke hatte er mehr Treffer einstecken müssen, als für ein Schiff dieser Größe gut war.

Die Zerberus-Klasse bot einiges, steckte viel weg und teilte ordentlich aus. Leider war es auch schon das größte Raumschiff, das man als Einzelperson fliegen konnte. Er flog schon seit Monaten nicht mehr mit Crew. Heute hätte er seine ehemaligen Waffenoffiziere jedoch ganz gut brauchen können.
Nachteil der fehlenden Crew waren Ausfälle einzelner Waffen oder ganzer Systeme, da er unterwegs nur bedingt Wartung und Reparatur betreiben konnte. Nunja, das machte regelmäßige Reparaturen notwendig, für die er wiederum gut vorgesorgt hatte.

Wie dem auch sei… Um eine Landegenehmigung zu erhalten, musste er nun das Grußsignal aktivieren. Für gewöhnlich flogen Martianer ohne ein solches. Konnte man ja gleich in den Betrieb reinrufen, ob jemand zum Bestehlen anwesend sei. Er schmunzelte innerlich bei diesem, seinem Vergleich.
„Mike, Alpha, Zulu, Foxtrott, 09931 erbittet Landeerlaubnis zu Reparaturzwecken. Kommen!“
Nach einigem, statischen Knistern folgte die erwartete Antwort: „MAZF009931, nutzen Sie den bereit gestellten Korridor zum Weiterflug zu einer martianischen Welt. Bei ‚Shingan‘ handelt es sich um einen taradorischen Planeten, auf dem wir Ihnen in keiner Weise behilflich sein können. Kommen!“
Beim Mars! Taradori bildeten eine Händlerfraktion. Nun gut, Martianer waren nirgends wirklich gern gesehen, doch er würde mit diesem Schiff keine martianische Welt mehr erreichen, ohne vorher zu ersticken. Er verfluchte dass der Computer ausgerechnet eine Welt ausgewählt hat, auf der es ihm auch noch teuer zu stehen kommen würde, falls sie ihn überhaupt landen ließen. Mitleid mit ihrem „natürlichen Fressfeind“ kannten Taradori für gewöhnlich auch nicht.
„Mein Schiff hat einen roten Riskostatus erreicht, der keinen Weiterflug mehr gestattet. MAZF009931 erbittet Landeerlaubnis zu Reparaturzwecken. Bitte scannen Sie mein energetisches Niveau und meine Schadensbilanz. Die Lebenserhaltung versagt innerhalb von drei Stunden. Ich öffne Ihnen sogar meine gesamte Datenbank, wenn Sie mich nicht in Ihrem Orbit verrecken lassen. Kommen!“
„MAZF009931, benennen Sie Namen, Vornamen, Dienstgrad und übermitteln Sie uns den Aktivierungscode Ihrer Selbstzerstörung. Kommen!“
Beim Mars! Die Jungs waren auf Zack. Täuschen könnte er sie nicht, denn sie würden den Code zweifellos testen. Seine selbst geschriebenen Subroutinen würden eine fremdausgelöste Selbstzerstörung zwar letztlich verhindern aber irritierend wirkte es dennoch, mit dem Lärm im Ohr dem schmalen Landekorridor zu folgen und den richtigen, zugewiesenen Slot am Boden zu erreichen.
„Hier MAZF009931, Stenyard Brin, Captain, ich schalte Ihnen das Landeinterface frei. Bringen Sie mich selbst runter, wenn es sein muss. Es ist genug Treibstoff für eine Gleitlandung an Bord. Überhitzung der Hülle sollte vermieden werden, da ich nicht weiß, wo der Sauerstoff austritt. Kommen!“
„MAZF009931, Captain Stenyard, lassen sie den verbleibenden Sauerstoff ab und benutzen Sie den Raumanzug zur Überbrückung. Dieser sollte mit Standardtank eine Laufzeit von mindestens einer Stunde haben. Wir übernehmen Ihr Schiff.
Greifen Sie in den Landevorgang ein oder laden ihren Schild, werden wir Ihre Selbstzerstörung aktivieren und sie über dem Ozean detonieren lassen. Verlassen Sie den Landekorridor oder aktivieren Ihre Waffensysteme, werden Ihre erfassten Koordinaten unter Feuer genommen. Verlassen Sie während der Reparaturarbeiten das Werftgelände, werden wir sie bis zum Abschluss der Reparaturen arrestieren.
Geben Sie jetzt die Steuerung frei und weisen Sie der Bank von Shingan 2,5 Millionen Credits als Reparaturkosten und Kaution auf Kontonummer 253474850 an. Sobald wir die Buchung sehen, übernehmen wir die Steuerung und geleiten Sie zur Werft der regierenden Kooperation. Over!“

Na gut, 2,5 Millionen sind keine Kleinigkeit. Aber er hatte mit einer vergleichbaren Summe gerechnet. Für Notfälle flogen immer Schuldverschreibungen im Wert von 5 oder manchmal auch 10 Millionen Credits mit. Er musste nun lediglich einen Transfer auslösen, ohne über Relaisstationen zu gehen. Sein Subraum-Kommunikationssystem war noch nicht wieder online.
Es mochte nicht ganz so einfach sein, doch nach einer reichlichen halben Stunde lag dem Captain eine Bestätigung der Bank von Shingan über den Empfang der geforderten Summe vor. Er schloss das Visier des Helms und ließ den im Schiffstank verbliebenen Sauerstoff ab, während sein Schiff, wie von Geisterhand gesteuert, die Umlaufbahn verließ und auf Shingans Oberfläche und damit seiner Rettung entgegen strebte.
Captain Stenyard sinnierte über die Umstände, die ihn zu einem Martian und den Sprecher des Tower einst zum Taradori werden ließen.
Es war nichts Genetisches, keine Frage der Ausbildung und selten eine Frage der Fraktionszugehörigkeit seines Mentors.
Was machte einem zum Martian, zum Krieger des Mars?
Was machte einen zum Taradori, einem Wirtschaftsmagnaten?
Was machte einen zum Skolari, einem der abgehobenen und abgedrehten Denker?

Nun gut, bei den Skolari war es klar. Ein bisschen mehr Intelligenz als beim Rest des Universums und man war gebrandmarkt. Die neuesten Entwicklungen kamen aus deren Denkerstuben wie bei den Taradori Module vom Band liefen. Den Martian stand es meist gut zu Gesicht, mit mindestens einem Skolari vertraut zu sein und von dessen Erfindungsgeist zu profitieren. Skolari kannten kein Gewissen. Ethische Bedenken mussten sie vor Generationen abgestreift haben. Sie handelten mit ihren Erfindungen, ließen jeden in den Genuss bester Waffen kommen, der genug dafür zahlte.
Doch nicht nur dies. Einzelne Kohorta Scolariae befassten sich mit genetischen Experimenten. So waren die Skolari die ersten und bislang einzigen Lieferanten von brauchbaren Robotern, Cyborgs, Androiden, Klonen und nicht zuletzt Nanniten.
Ohne Robotik und Nanotechnologie könnte Brin sein Schiff nicht allein fliegen. Alle Basisfunktionen des Schiffes waren automatisiert, Nanniten reparierten auf molekularer Ebene die Hülle und wandelten leblose Materie in lebende und vor allem genießbare. Ein Mensch lebt nicht allein von Luft und Liebe.

Größere, martianische Flotten quollen über vor Crew. Liefen solche beeindruckenden Flotten auf einer martianischen Welt ein, stürmten meist einige Tausend Crewmitglieder die örtlichen Etablissements und ihnen rannen Genussmittel palettenweise durch die Hände.
Brin schmunzelte. Auch er wusste ein gutes Derogwanisches Ale oder das Anirulische Gewürzbier zu schätzen. Oder auch das Auge Odins, ein alkoholisches Starkgetränk, bei dem man tatsächlich die Sehkraft einbüßen konnte, wenn man an die falsche Destille geriet. An die Qualität der vergorenen Trauben von Blue Satra kam allerdings nichts heran. Zu schade, dass die Abbaugebiete dort langsam veröden und überhaupt nur noch wenig frische Ware aus dieser Gegend zu bekommen war.
Nein, er konnte sich vieles davon nur leisten, wenn seine Auftraggeber es als Bezahlung anboten. Die Taradori hatten ihn ausschließlich aufgrund seines Status als Freischaffender landen lassen. Ein Martianisches Kriegsschiff mit größerer Besatzung wäre von ihnen aus ihrem Orbit komplimentiert worden, falls sie es denn hätten orten können. Sein Schiff war ja bis zum Senden des Grußsignals auch unentdeckt geblieben. Nur bei ihm war es eine die Scanner irritierende Spezialhülle, kein teurer, taktischer Tarnschild.
Egal. Er war stolz auf seine Freiheit. Frei von Zwängen. Frei von Befehlsketten. Aber auch frei von Rückendeckung gegen die Jurmala. Der Kreis seiner Gedanken schloss sich, während die nun gezündeten Bremsdüsen auch die letzte Phase der Landung anzeigten.

Der Kommunikator knackte, dann hörte er die vertraute Stimme: „MAZF009931, bitte kommen!“
„Hier MAZF009931, ich höre.“
„MAZF009931, Captain Stenyard, verbleiben Sie bitte an Bord, bis eine Delegation der Werft sich zur Inspektion meldet. Ich wiederhole: Verlassen Sie das Schiff nicht. Kommen!“
„Ich verstehe, Tower, an Bord bleiben und auf Anweisungen warten. Keine Schilde, Waffen, Scanner oder andere Systeme aktivieren. Kommen!“
„MAZF009931, wir sind erfreut über Ihre Kenntnis unserer Vorgaben. Over!“

Ja, klar. Erfreut. Er würde nun zu spüren bekommen, dass er trotz der üppigen Vorabzahlung die niedrigste Priorität in der Werft genoss. Sollte er ein Bordsystem aktivieren, dass Wirkung nach außen haben könnte, würden sie das Schott über ihm schließen und das Schiff kontrolliert sprengen.
Naja, noch konnte er es sich gut gehen lassen. Die ehemaligen Mannschaftsquartiere waren zu Munitionsdepots, Lager- und Aufenthaltsräumen umgebaut worden. Er hatte Platz. So konnte er sich zum Verhandeln mit Auftraggebern immer in den Salon zurückziehen, der für Gelage und Orgien wie geschaffen war. So etwas besaßen nur wenige Schiffe dieser Klasse. Wäre wirklich schade drum gewesen.
Dafür waren einige Köpfe gerollt. Er schmunzelte schon wieder. Klang doch gut.
Brin Stenyard, freiberuflicher Kopfgeldjäger und Söldner.