Eine neue Welt 10

Lionas konzentrierte sich wieder intensiver. Das Leben Brin Stenyards. Eingeprägt in seine Gene. Bewahrt falls er sich entschloss, es an einen Nachkommen weiterzugeben.
Die letzten Jahre hatte er sich bereits auf den Status eines Sonderlings und Einzelgängers zurück gezogen. Arbeite gerne allein und vollkommen ohne Mannschaft. Dies bedeutete jedoch auch, dass er selbst sich auf Schiffskampf spezialisieren musste. Zum Plündern fehlte ihm die Crew. Beute nur mit Meute. Ein alter martianischer Trinkspruch. Lionas schmunzelte.
Er hatte seine bei den „Martian“ erlangten Kenntnisse der Taktik und des Kampfes meistbietend verkauft. Loyalität war seit Langem kein großes Thema bei den „Martian“ mehr. Sehr wohl aber Kriegerehre. Man fand sich für ein Projekt zusammen, zog es durch und wurde dafür bezahlt. Dann verschwand man einige Tage von der Bildfläche, bis sich die Wogen wieder geglättet hatten.
Die Unterstellungen der „Taradori“, man hätte sich auf deren Welten eingeschossen, stimmte in dieser pauschalen Form nicht. Es war nichts Ehrenvolles daran, einem Unbewaffneten den Schädel einzuschlagen. Sicherlich brauchte man hin und wieder die von ihnen gehorteten Ressourcen oder Bauteile. Brin Stenyard war stets bereit, einen fairen Preis zu zahlen, statt sich in einen Kampf ohne Ehre zu stürzen. Doch die verbohrten „Taradori“ ließen keine „Martian“ in ihre Nähe. An Handel war nicht zu denken. Und dies trotz deren angeblicher Ausrichtung auf genau dieses Fachgebiet. Den Handel.
Nein, sie drohten einem bekennenden „Martian“ noch mit dessen Vernichtung, falls er sich erdreistete, auf einer ihrer Welten zu landen. Das klang nicht sonderlich pazifistisch. Wirklich nicht. Kämpfte man sich dann in Begleitung einiger Waffengefährten auf eine solche Welt durch und besetzte Regierungsgebäude während der Plünderung einiger Betriebe, wurde man natürlich zum Staatsfeind Nummer 1 hoch stilisiert. Doch freiwillig gaben die „Taradori“ einem „Martian“ nichts her. Für kein Geld dieser jämmerlichen Welt.
Wundert es da, dass martianische Schiffskapitäne es sich zur Gewohnheit gemacht haben, die Identität ihrer Schiffe zu verschleiern, gefälschte Grußsignale zu senden, die Signaturen taradorischer Schiffe beinhalteten? Diente dies nicht genau genommen dem Schutz von Menschenleben auf beiden Seiten? Wollten die „Taradori“ nicht schlicht und ergreifend beschissen werden?

Ging es jenen aber an die Substanz, zeigten sie plötzlich Gesprächsbereitschaft. Einige „Martian“ verdingten sich als Söldner in taradorischen Kooperationen. Lebten von den Almosen, die ihnen die „Taradori“ zufallen ließen. Freibriefe gab es nur für „Martian“, denen man vertraute. Also denen, die ihre Überzeugung und Ehre über Bord geworfen und zu Verrätern an der martianischen Sache geworden waren.
Und man hatte Brin Stenyard einen solchen Verrat zugetraut? Man glaubte, ihn mit solch unehrenhaften Mitteln ködern zu können? Bei den „Taradori“ drehte sich alles ausschließlich ums Geld. Lionas Mundwinkel zog es unwillkürlich nach unten.

Betrachtete man hingegen die „Skolari“ sah die Sachlage ganz anders aus. Sie waren selbstgerecht und allesamt egoistisch. Vielleicht waren sie sogar die schlimmeren „Taradori“. Sie machten Geschäfte mit allen Seiten. Ihnen ging es um die Gewinnmaximierung ihrer Forschungsergebnisse. Leider produzierten sie selbst im Vergleich zu den taradorischen Partnern nur verhältnismäßig kleine Mengen ihrer eigenen Erfindungen. Viele „Skolari“ kooperierten mit taradorischen Unternehmen, da dort sowohl die Produktionskapazitäten als auch das Potenzial bezüglich der verfügbaren Ressourcen existierte.
Ein „Martian“ konnte jederzeit Eigenproduktionen der „Skolari“ erwerben. Kämpfe um skolarische Betriebe hielten sich in engem Rahmen, da es dort zwar mitunter Blaupausen zu stehlen gab, diese aber meist nur durch hohe Verluste in den eigenen Reihen erlangt werden konnten. „Skolari“ waren für gewöhnlich bis an die Zähne bewaffnet und besaßen extrem effektive Schildtechnologien, an denen sich ein „Martian“ stundenlang die Zähne ausbeißen konnte. Der technologische Vorsprung war stets unverkennbar.
Brin Stenyard hatte in seiner gesamten Laufbahn nur ein einziges Mal mit einer skolarischen Verteidigungsbastion zu tun gehabt. Ltd. Colonel Nix hatte eine Flotte von acht Schiffen der Leviathan-Klasse mit jeweils mindestens drei schweren Bombern der Zerberus-Klasse an Bord befehligt. Von den zahllosen leichten und schweren Jägern einmal abgesehen. In den vier Stunden des Dauerbeschusses hatte der Inhaber der skolarischen Forschungsstation in aller Ruhe mit Nix verhandelt und ihn letztlich zum Abbruch des Angriffes bewegt. Im Gegenzug erhielten die Angreifer Lizenzen für den Maschinenbau und mehrere Blaupausen, die eine eigene Forschungsreihe erlaubten.

Ja, auch die „Martian“ besaßen fähige Köpfe. Da die Mitarbeit in einem Labor aber nur bedingt zur Erlangung von Kriegerehre und Anerkennung führte, war es relativ schwierig, in dieser Fraktion auf engagierte Wissenschaftler zu stoßen. Sehr wenige „Skolari“ waren bereit, sich in einer martianisch dominierten Kooperation einzubringen. Es war schlicht nicht gewinnträchtig genug. Und die Forschung zugegebenermaßen auch sehr einseitig.
Kriegsschiffe, Kriegsgerät und Verteidigungssysteme.
Produktion und Ressourcengewinnung brachten erst recht keine Genugtuung, keine Ehre, derer ein Krieger bedurfte, wollte er in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen.
Holte man sich Ressourcen und Komponenten dort, wo es sie in Massen gab, musste man Gewalt anwenden, da die Besitzer nur selten einem Handel zustimmten. Dies war einem Freelancer noch eher vergönnt als dem Militär einer martianischen Allianz.
Eine verfahrene Situation, in die sich die Fraktionen vor vielen Jahrzehnten manövrierten.

Brin Stenyard hatte sich nach fast zehnjährigem Dienst in der Flotte der Stirgard-Allianz aus dem aktiven Dienst in die Selbständigkeit verabschiedet. Er hatte sich dem Meistbietenden als Söldner und Kopfgeldjäger verdingt. Für ihn spielten die Unterschiede der Fraktionen längst eine nur noch untergeordnete Rolle. Er besaß einen kleinen Betrieb, mehr eine Basis als eine Produktionsstätte. Gut befestigt und nahezu ohne Material, dass sich zu stehlen lohnte.
Sein Leben war ein ständiges Auf und Ab. Es gab magere und fette Zeiten. Als Kopfgeldjäger war er relativ erfolgreich. Doch die verhältnismäßig geringe Zahl an Aufträgen teilten sich viele Anwärter. Bei seinen Söldnerjobs hatte er stets darauf geachtet, nicht seiner eigenen Linie untreu zu werden. So war er nie zum Verräter an der martianischen Sache geworden, wenngleich er mehrere Male gegen seine Leute hatte antreten und zahlreiche Leben hatte nehmen müssen.
Er genoss eine gewisse Achtung sowohl der „Taradori“ als auch der „Skolari“, was ihm gestattete, auch die Vorzüge reicher und satter Welten zu genießen. Dies hatte ihn offenbar weicher und toleranter werden lassen. Er genoss sein Leben und erfreute sich sowohl an leiblichen als auch an geistigen Genüssen. Seine Mannschaft war jedoch zusehends geschrumpft, was ihm die Möglichkeit nahm, an größeren, militärischen Aktionen teilzunehmen. Vermisste er diese? Nein, eigentlich nicht. War er ein „echter Martian“? Lionas konnte diese Fragestellung ganz klar verneinen, denn er war ein waschechter „Homin“. So gesehen passte in seinem Werdegang alles. Er hatte überlebt und durfte sich getrost als wohlhabend bezeichnen. Auf gesellschaftliches Ansehen legte er keinen Wert. Seine Tarnung wäre mit jedem Aufstieg gefährdeter gewesen.
Nun war alles wahrhaftig, lag seine Bestimmung deutlich vor ihm.
Er würde die „Thanatos“ wieder ihrer Mission zuführen. Von Tag zu Tag wurde jedoch klarer, dass er keine Variation seines Planes fand, bei der er auf das großzügige Angebot der „Taradori“ und der „Skolari“ verzichten könnte. Man brauchte Proviant, technisches Equipment, Material zur Fortsetzung der Reparaturen und nicht zuletzt Personal, das sich möglicherweise dauerhaft von seiner derzeitigen Aufgabe lösen würde. Freibriefe würden eine große Zahl dieser Bedürfnisse abdecken, das Technologieangebot der „Skolari“ war für das Schiff von essentieller Bedeutung. Die vorhandenen Systeme arbeiteten zwar fast alle wieder normal, waren aber nur zum Teil mit den hier verfügbaren Mitteln zufriedenstellend zu betreiben. Seien es Energiegewinnung, Antrieb, Projektilwaffen oder Lebenserhaltungssysteme.
Entweder benötigte man eine größere Zahl neuer Generatoren, die auf die primitive Methode der Kernspaltung setzten oder aber Fusionsreaktoren, die man primär mit Wasserstoff füttern musste. Es sei denn, es wäre möglich, vier Standardpaletten raffinierten Niorans, also Niorynium aufzutreiben.
Er würde Dr. Sinar bitten, Augen und Ohren offen zu halten. Sie würde genügend über diese Stoffe wissen, um deren Verfügbarkeit prüfen zu lassen.
Beim Aufsetzen auf der Pritsche ächzte er wie ein alter Mann. Endlich sitzend entschloss sich Lionas spontan zu einer weiteren Runde im Fitnessraum des Schiffes. Müßiggang war eine Qual.