Eine neue Welt 9

Lionas lag frisch geduscht und eingekleidet auf der Pritsche des Kapitänsquartiers.
Seit Tagen hielt er Zwiesprache mit dem Bordcomputer und versuchte, die letzten Monate der „Mission Supervivo“ nachzuvollziehen. Was hatte ausgerechnet diese Mission scheitern lassen, wo doch zahlreiche andere Erfolg hatten?
Der letzte Logbucheintrag stammte vom Freitag, dem 15. Juni 2362 irdischer Zeitrechnung.
Während die „Phoibos“ der „Thanatos“ bis zum Ausfall ihrer Energiesysteme gefolgt war und regelmäßig Standortkoordinaten übermittelt hatte, lag das Schicksal der „Erebos“ im Dunkeln. Er schmunzelte bei diesem gedanklichen Wortspiel. Die Wege der Schiffe hatten sich bereits drei Jahre zuvor getrennt. Der Funkkontakt hielt noch ein knappes, halbes Jahr, dann gab es keine Lebenszeichen der „Erebos“ mehr in den Aufzeichnungen. Die letzte bekannte Position der schönen Dunklen lag in einem Spiralarm der Milchstraße, fast diametral gegenüber des Arms, in dem sich die Erde befand.
Tausende, synchronisierte Logbucheinträge der drei Schiffe galt es auf der Suche nach dem Schicksal des Terzetts zu durchforsten.

Eines war allerdings sicher. Konsul Geser hatte zu dick aufgetragen, als sie behauptete, die Standorte der beiden anderen Schiffe zu kennen. Sie konnte bestenfalls annehmen, dass sich die „Phoibos“ auf der anderen Seite des Wurmlochs bzw. in einer vorherberechenbaren Linie davon befand, falls sie nicht einfach stur am Wurmloch vorbei getrieben war. Mit der Kenntnis vom Verbleib der „Erebos“ konnte auch Geser sicher nicht aufwarten.
Noch eines wurde ihm bewusst, je mehr Erinnerungen sein Unterbewusstsein ihm zugänglich machte.
Drahtzieher hinter dem „Thanatos“-Projekt und der damit verbundenen, taradorischen Mission waren ganz sicher weder Lana Geser noch Rat Larson. Hier hatte jemand anderes seine Hand im Spiel und er ahnte nun auch, wer dies sei.
„Computer!“
„Ich erwarte Ihre Eingabe, Sir!“ kam die militärisch korrekte Antwort mit männlicher Stimme zurück, der er in den letzten Tagen schon so lange gelauscht hatte.
„Kommunikation Konsul Lana Geser.“ Sagte Lionas. Er war insgeheim gespannt, welche Möglichkeiten sich der Computer zu Nutze machen würde, um diese Aufgabe zu erfüllen.
Kurze Zeit später drang die angenehm weiche Stimme des Konsuls aus dem Lautsprecher, wenngleich sie etwas verschlafen klang.
„Habe ich Sie geweckt, Lana? Ich verliere leider etwas die Kontrolle über meine innere Uhr.“ Sagte Lionas.
„Ja, Lionas, Sie haben mich geweckt, es ist mitten in der Nacht.“ Das letzte Wort verbarg sich hinter einem geräuschvollen Gähnen. „Ist es sehr wichtig oder hat es Zeit bis morgen früh?“
„Vermutlich hat es Zeit. Ich wollte nur wissen, wer die Suche nach der ‚Thanatos‘ veranlasst hatte.“
„Es gab keine Suche. Die Crew des Forschungsschiffes entdeckte sie zufällig in der Nähe des Wurmloches, das das eigentliche Expeditionsziel darstellte. Da kann Ihnen Dr. Sinar sicherlich einiges dazu sagen. Sie war leitender Wissenschaftsoffizier der Mission.“
„Dr. Sinar, eine Homin.“ Sagte Lionas mehr zu sich als zu seiner Gesprächspartnerin.
„Ja, den Missionsauftrag hat seinerzeit Thor Valig abgezeichnet. Er hielt es für unabdingbar, ausgerechnet dieses Wurmloch zu studieren. Mehr weiß ich leider auch nicht darüber. Ich wurde erst in der Folgezeit in die Planung unserer Mission einbezogen.“
„Durch wen?“ hakte Lionas nach.
„Rat Larson.“ Sagte Lana.
Nun, das mochte aus Ihrer Sicht stimmen. Doch Lionas war sich sicher, dass auch Rat Larson nur ein Befehlsempfänger war. Aber er hatte einen Namen, der ihm als Bestätigung mehr als ausreichend erschien. Thor Valig, Vizepräsident der Taradorischen Fraktion.
„Danke, Konsul, sie haben mir mehr geholfen, als Sie ahnen. Schlafen Sie gut.“ Sagte Lionas schnell.
„Gute Nacht, Lionas.“ Sagte Geser und unterbrach die Verbindung.
„Computer! Aufenthaltsort und Ortszeit von Thor Valig ermitteln. Ausführen!“ sagte er.
„Thor Valig, Vizepräsident der taradorischen Fraktion befindet sich laut Angaben der Singanischen Personaldatei derzeit in seinem Hauptwohnsitz auf Arras, Stammsitz der taradorischen Fraktion. Angabe einer Ortszeit mit meinen Methoden der Zeitmessung nicht kompatibel. Tag.“
„Computer! Verbindungsaufbau Thor Valig! Ausführen!“
Er wartete und lächelte. Während sich der Computer durch anscheinend nahezu ungeschützte Datenbanken hackte und die private Kommunikation zu einem hohen Regierungsmitglied aufbaute, das nicht ahnen konnte, was gleich auf es zukam.
„Valig hier, wer spricht da?“
„Mein lieber Thor, hier spricht Lionas.“
„Ich kann gerade nicht sprechen, ich befinde mich in einer Unterredung des taradorischen Rates.“
„Mein Computer hat Dich einmal gefunden, er wird Dich immer wieder finden. Wenn ich mich das nächste Mal melde, spreche ich mit Meister Thorvald. Lionas benötigt seine Mitwirkung.“
„Verstehe, Valig Ende.“ Sagte der Vizepräsident.
„Gesicherte Leitung abgebaut.“ Sagte der Computer.
Lionas lachte kurz auf. Offenbar las ‚Thanatos‘ wohl Gedanken.
„Computer. Standby.“
„Befehl wird ausgeführt.“

Nun herrschte wieder Ruhe. Aufzeichnungen seiner möglichen Selbstgespräche würde es nicht geben. Er sprach immer wieder laut während seiner inneren Sammlung. Während er Ordnung und Chronologie in das Chaos seiner Geschichte brachte.
Er versetzte sich in eine leichte Trance und ging schrittweise zurück. Das Leben Brin Stenyards verlief in geregelten Bahnen, die seiner martianischen Erziehung geschuldet waren.
Mit drei Jahren erhielt Lionas von seiner Mutter die Einprägung als Großmeister, die sie daraufhin extrem geschickt verdeckte. Kinder haben im frühen Status ihres Lebens noch keinen Bezug zu Geheimnissen, teilen sie nur zu gern mit wohlwollenden Menschen in ihrem Umfeld. Eine Tarngeschichte war jedoch nicht nötig, da Lionas sich ohnehin nicht würde an seine frühe Kindheit erinnern können.
Obwohl das Wissen genetisch geprägt ist, bedarf es einer Einprägung oder Initiierung durch einen Meister oder Großmeister, um im späteren Leben auf diese ererbten Erinnerungen Zugriff erhalten zu können. Meist geschah diese im bewussten Alter von zehn bis vierzehn Jahren, bedurfte einer Tarngeschichte und in manchen Fällen auch einer Überdeckung. Das hieß schlicht und ergreifend, dass man das bis dahin erlernte und erfahrene in einen entfernten Winkel des Unterbewusstseins verbannte, von wo aus es langsam in den genetischen Code einsickerte, während im Vordergrund ein gänzlich anderes Leben ablief, das für gewöhnlich nichts mit dem Dasein eines „Homin“ gemein hatte.
Im Normalfalle würde die Rückerinnerung ebenfalls durch einen Meister oder Großmeister veranlasst, damit sie in geregelten Bahnen verlief. Der Begriff „Rekonvaleszenz“ war für jene Wiederherstellung geschickt gewählt. Nichts deutete daran auf das Hervorholen von Erinnerungen oder Informationen hin. Das wäre zu vielen Menschen in dieser Galaxis eine zu große Verlockung.
Bekennende, sich erinnernde „Homin“ hatten in ihrem Umfeld nur noch selten Vertraute einer der bekannten Fraktionen. Zu groß war deren Neugier auf die alten Geheimnisse, die sich in dem viele hundert Jahre alten, ererbten Wissen finden mochten. Meist ergab sich damit ein Rückzug auf ein Eremitendasein. Einsamkeit.
Lionas wusste daher, dass viele nur allzu gerne seinem Ruf auf die „Thanatos“ folgen würden, die eine Lösung für all ihre Probleme zu bieten schien. Einen Ausweg. Eine Fluchtmöglichkeit.
Er machte Dr. Sinar keinen Vorwurf bezüglich Ihres ungeschickten Vorgehens. Sie hatte lediglich die Aufgabe erhalten, ihn auf seine Zugehörigkeit zur „Vierten Fraktion“ hin zu sondieren. Sinar hatte keine Ahnung, dass die Rekonvaleszenz bei ihm bereits selbständig eingesetzt hatte, wodurch sie versehentlich die letzten Mauern zu seinem genetischen Gedächtnis nieder riss.