Thor Valig blickte betreten drein. Wie zum Teufel sollte er dem Präsidenten seinen Rücktritt erklären? Doch wenn ein Großmeister der „Homin“ rief und um Mitwirkung bat, gab es für ihn nur eine Option. Unbedingter, blinder Gehorsam. Er würde dem Ruf des Großmeisters folgen.
Nun, er hatte vorausgesehen, dass die „Thanatos“ weitere „Homin“ anziehen, dass es seine Mission werden würde. Nicht vorhersehbar war das Auftauchen ausgerechnet von Lionas, dem Großmeister, Sohn der Astarte. Er hatte ja offenbar bereits das Kommando der „Thanatos“ übernommen, die damit für ihn verloren war. Andererseits würde Lionas mit Sicherheit versuchen, die Schwesternschiffe aufzutreiben. Eines von jenen würde er, Meister Thorvald, dann mit Sicherheit befehligen. Auch wenn das sicherlich nicht der erste Gedanke des Großmeisters gewesen sein dürfte. Er wollte ihn vermutlich als Kommunikationsoffizier, als jemanden, der sich auf Codes, Signale und Frequenzen verstand. Insbesondere der historisch verbürgten. Und jemanden, der ihn mit diplomatischem Geschick aus einer möglichen Misere zu manövrieren vermochte. Lionas war kein Diplomat, kein Wiesel, kein Fuchs. Er war der Löwe.
Außerdem wollte sich Lionas gewiss der Unterstützung der „Taradori“ versichern. Dies ging mit Thor Valig an seiner Seite fast von selbst. Offenbar hatte der Großmeister auch seine Verstrickung in den Plan zur Bergung der „Thanatos“ durchschaut. Das Schiff beziehungsweise der gleichnamige Bordcomputer hatte eine von Valig selbst autorisierte Datenbankkopplung zum großen Netz Shingans und damit dem aller taradorischen Welten erhalten. Die Mitglieder der Fraktion und ihrer Führung wussten nichts von den außergewöhnlichen Fähigkeiten eines Kriegsschiffes und dessen Computer. „Thanatos“ war eine hoch entwickelte, künstliche Intelligenz. Es hatte viele Mühen gekostet, dies den „Skolari“ gegenüber zu verbergen. Der Computer verfiel beim Eintreffen eines Vertreters dieser Fraktion nun automatisch in Standby.
Für diese Funktion und ihre Tarnung konnte er allerdings nicht mehr garantieren, wenn Lionas das Schiff intensiv zum Abgleich seiner Erinnerungen mit den vorhandenen Informationen nutzte. An eine Neurotransmitterkopplung zwischen Lionas und „Thanatos“ und deren energetische Auswirkungen auf das shinganische Dock wagte er gar nicht zu denken. Er konnte nur hoffen, dass der Großmeister rechtzeitig an die richtigen Erinnerungen gelangte und dieses Experiment am Boden unterließ. Das Potenzial eines Großmeisters war schlicht überwältigend. Woher dies rührte, wusste Valig allerdings auf seiner Hierarchieebene nicht. Hoffentlich wussten es die oben.
In Gedanken hatten ihn seine Beine wie von selbst vor das Büro des Präsidenten der taradorischen Fraktion getragen. Wenn er nun schon einmal hier war… Er klopfte und wartete auf die Aufforderung zum Eintreten. Diese blieb allerdings aus. Einer Eingebung folgend trat Valig dennoch ein.
Der Raum befand sich in einem Skytower, einem von fünf ihrer Art in der Hauptstadt der M-Welt Arras. Der Präsident thronte, residierte und repräsentierte den Reichtum der „Taradori“ auf höchster Ebene. Thorvald schmunzelte über diesen, seinen Vergleich. Niemals wäre ihnen, den „Taradori“, eingefallen, dass fünf jämmerliche Drohnen, abgeschossen von einem Schiff im Orbit dieser Repräsentationssucht ein jähes Ende bereiten könnten. Kein „Skolari“ oder gar „Martian“ würde sich derart, wie auf einem Präsentierteller darbieten. Flache, massive Bauten, die sich leicht schirmen und verteidigen ließen. Der Skytower besaß noch nicht einmal einen Schild. Die Hauptstadt als solche wohl, doch Drohnen waren Flugmaschinen, die keinen Regeln eines energetischen Angriffs folgten. Sie würden ihn problemlos durchdringen und der Prahlerei ein Ende setzen.
Kopfschüttelnd wandte er sich vom durchaus beeindruckenden Ausblick ab und spitzte die Ohren. Irgendwoher hörte er zwei verhaltene Stimmen. Langsam schritt er durch den Raum, drehte immer wieder den Kopf um die Quelle der Geräusche auszumachen. Diese schien sich hinter einer Wandverkleidung zu befinden. Das Ohr auf dem Brett stellte er fest, dass er dem Präsidenten wohl noch ein paar Minuten zur Beendigung der „Besprechung“ mit seiner Assistentin einräumen sollte, wandelte mit einem Grinsen zur Mitte des Raumes zurück und verfiel wieder in Gedanken.
Bisher hatte kein „Martian“ oder „Skolari“ Drohnen auf die Skytower abgefeuert. Warum wohl. Die blinde Wut in die sich die „Taradori“ seit Jahrzehnten hinein gesteigert haben, beruhte auf einer Lüge. Doch das wollte er gedanklich nicht erörtern, so lange er noch im Dienste dieser Fraktion stand. Aber allein die Tatsache, dass die Skytower seit nunmehr siebzehn Jahren auf Arras standen, hätte jedem Individuum mit gesundem Menschenverstand sagen müssen, dass allen Fraktionen am Erhalt des Status Quo gelegen war, dass die Macht der jeweils Herrschenden manifestierte.
Doch auf der Erde war dies vor ewigen Zeiten auch nicht anders. Ablenkung, Lüge, Intrige. Durch alle Erdzeitalter hindurch, in denen es intelligentes, zum Herrschen geborenes Leben gab. Die erste große Plage. Herrscher und Pöbel. Mal mehr, mal weniger offensichtlich. So offensichtlich wie dies aber hier auf Arras wurde, hatte Thor Valig es noch nie wahrgenommen. Und doch kam niemand da unten – zweihundert Stockwerke tiefer – auch nur ansatzweise auf die Idee, dass sie total am Arsch waren. Die letzten, die aufzumucken versuchten, bekamen einen Tritt in den Ihren.
Er schüttelte den Kopf um auch diese Gedanken zu vertreiben, da ein Klicken hinter ihm andeutete, dass der Präsident nach dem restlosen Schließen seiner Hose zu seiner Verfügung stehen würde. Er ließ jenem genug Zeit ihn zu bemerken und anzusprechen.
„Thor, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?“
„Herr Präsident, ich muss Ihnen eine wichtige Mitteilung machen. Ich beabsichtige, mich an der ‚Thanatos-Mission‘ aktiv zu beteiligen und werde alle meine Ämter zur Verfügung stellen.“ Ehrlichkeit führt nicht zu Verstrickungen. Sie währte am Längsten. Außerdem war ihm mittlerweile vollkommen egal, was ein taradorischer Präsident für eine Meinung von ihm haben könnte.
„Aber Thor, Sie können sich doch auch an der Mission beteiligen, ohne sich aller Ehren zu entledigen.“ Sagte der Präsident.
Ehre. Valig hätte fast gelacht, bewahrte aber Haltung. Nein, morgen hätte er diesen Schritt nicht mehr über sich gebracht. Er hätte fliehen müssen.
„Nein, Herr Präsident, ich fürchte, diese neuen Aufgaben fordern meine gesamte Aufmerksamkeit und dies möglicherweise für eine sehr lange Zeit. Sie werden noch heute meine schriftliche Rücktrittserklärung erhalten. Ich muss auf meiner Entlastung bestehen. Würdige Anwärter auf meinen Posten gibt es hier genug.“
„Verstehe, Thor. So schwer es mir fällt, einen so wichtigen Berater an meiner Seite gehen zu lassen…“ sagte der Präsident, setzte sich an seinen Schreibtisch, faltete die Hände auf der pedantisch aufgeräumten Tischplatte und blickte ihn voller Wehmut an. Doch dann nickte er und sagte noch: „Es war mir eine Ehre, mit Ihnen arbeiten zu dürfen, Thor. Viel Glück und Erfolg bei Ihren zukünftigen Vorhaben und danke, dass Sie mich eingeweiht haben, bevor ich es aus der Presse erfahren muss.“
„Danke, Herr Präsident, leben Sie wohl.“ Valig wandte sich ab und verließ das Büro auf dem Weg zu dem seinen, in dem er seiner Assistentin das Rücktrittsgesuch diktieren und seinen Platz für einen Nachfolger räumen würde. Für immer.