Eine neue Welt 11

Thor Valig blickte betreten drein. Wie zum Teufel sollte er dem Präsidenten seinen Rücktritt erklären? Doch wenn ein Großmeister der „Homin“ rief und um Mitwirkung bat, gab es für ihn nur eine Option. Unbedingter, blinder Gehorsam. Er würde dem Ruf des Großmeisters folgen.
Nun, er hatte vorausgesehen, dass die „Thanatos“ weitere „Homin“ anziehen, dass es seine Mission werden würde. Nicht vorhersehbar war das Auftauchen ausgerechnet von Lionas, dem Großmeister, Sohn der Astarte. Er hatte ja offenbar bereits das Kommando der „Thanatos“ übernommen, die damit für ihn verloren war. Andererseits würde Lionas mit Sicherheit versuchen, die Schwesternschiffe aufzutreiben. Eines von jenen würde er, Meister Thorvald, dann mit Sicherheit befehligen. Auch wenn das sicherlich nicht der erste Gedanke des Großmeisters gewesen sein dürfte. Er wollte ihn vermutlich als Kommunikationsoffizier, als jemanden, der sich auf Codes, Signale und Frequenzen verstand. Insbesondere der historisch verbürgten. Und jemanden, der ihn mit diplomatischem Geschick aus einer möglichen Misere zu manövrieren vermochte. Lionas war kein Diplomat, kein Wiesel, kein Fuchs. Er war der Löwe.
Außerdem wollte sich Lionas gewiss der Unterstützung der „Taradori“ versichern. Dies ging mit Thor Valig an seiner Seite fast von selbst. Offenbar hatte der Großmeister auch seine Verstrickung in den Plan zur Bergung der „Thanatos“ durchschaut. Das Schiff beziehungsweise der gleichnamige Bordcomputer hatte eine von Valig selbst autorisierte Datenbankkopplung zum großen Netz Shingans und damit dem aller taradorischen Welten erhalten. Die Mitglieder der Fraktion und ihrer Führung wussten nichts von den außergewöhnlichen Fähigkeiten eines Kriegsschiffes und dessen Computer. „Thanatos“ war eine hoch entwickelte, künstliche Intelligenz. Es hatte viele Mühen gekostet, dies den „Skolari“ gegenüber zu verbergen. Der Computer verfiel beim Eintreffen eines Vertreters dieser Fraktion nun automatisch in Standby.
Für diese Funktion und ihre Tarnung konnte er allerdings nicht mehr garantieren, wenn Lionas das Schiff intensiv zum Abgleich seiner Erinnerungen mit den vorhandenen Informationen nutzte. An eine Neurotransmitterkopplung zwischen Lionas und „Thanatos“ und deren energetische Auswirkungen auf das shinganische Dock wagte er gar nicht zu denken. Er konnte nur hoffen, dass der Großmeister rechtzeitig an die richtigen Erinnerungen gelangte und dieses Experiment am Boden unterließ. Das Potenzial eines Großmeisters war schlicht überwältigend. Woher dies rührte, wusste Valig allerdings auf seiner Hierarchieebene nicht. Hoffentlich wussten es die oben.

In Gedanken hatten ihn seine Beine wie von selbst vor das Büro des Präsidenten der taradorischen Fraktion getragen. Wenn er nun schon einmal hier war… Er klopfte und wartete auf die Aufforderung zum Eintreten. Diese blieb allerdings aus. Einer Eingebung folgend trat Valig dennoch ein.
Der Raum befand sich in einem Skytower, einem von fünf ihrer Art in der Hauptstadt der M-Welt Arras. Der Präsident thronte, residierte und repräsentierte den Reichtum der „Taradori“ auf höchster Ebene. Thorvald schmunzelte über diesen, seinen Vergleich. Niemals wäre ihnen, den „Taradori“, eingefallen, dass fünf jämmerliche Drohnen, abgeschossen von einem Schiff im Orbit dieser Repräsentationssucht ein jähes Ende bereiten könnten. Kein „Skolari“ oder gar „Martian“ würde sich derart, wie auf einem Präsentierteller darbieten. Flache, massive Bauten, die sich leicht schirmen und verteidigen ließen. Der Skytower besaß noch nicht einmal einen Schild. Die Hauptstadt als solche wohl, doch Drohnen waren Flugmaschinen, die keinen Regeln eines energetischen Angriffs folgten. Sie würden ihn problemlos durchdringen und der Prahlerei ein Ende setzen.
Kopfschüttelnd wandte er sich vom durchaus beeindruckenden Ausblick ab und spitzte die Ohren. Irgendwoher hörte er zwei verhaltene Stimmen. Langsam schritt er durch den Raum, drehte immer wieder den Kopf um die Quelle der Geräusche auszumachen. Diese schien sich hinter einer Wandverkleidung zu befinden. Das Ohr auf dem Brett stellte er fest, dass er dem Präsidenten wohl noch ein paar Minuten zur Beendigung der „Besprechung“ mit seiner Assistentin einräumen sollte, wandelte mit einem Grinsen zur Mitte des Raumes zurück und verfiel wieder in Gedanken.
Bisher hatte kein „Martian“ oder „Skolari“ Drohnen auf die Skytower abgefeuert. Warum wohl. Die blinde Wut in die sich die „Taradori“ seit Jahrzehnten hinein gesteigert haben, beruhte auf einer Lüge. Doch das wollte er gedanklich nicht erörtern, so lange er noch im Dienste dieser Fraktion stand. Aber allein die Tatsache, dass die Skytower seit nunmehr siebzehn Jahren auf Arras standen, hätte jedem Individuum mit gesundem Menschenverstand sagen müssen, dass allen Fraktionen am Erhalt des Status Quo gelegen war, dass die Macht der jeweils Herrschenden manifestierte.
Doch auf der Erde war dies vor ewigen Zeiten auch nicht anders. Ablenkung, Lüge, Intrige. Durch alle Erdzeitalter hindurch, in denen es intelligentes, zum Herrschen geborenes Leben gab. Die erste große Plage. Herrscher und Pöbel. Mal mehr, mal weniger offensichtlich. So offensichtlich wie dies aber hier auf Arras wurde, hatte Thor Valig es noch nie wahrgenommen. Und doch kam niemand da unten – zweihundert Stockwerke tiefer – auch nur ansatzweise auf die Idee, dass sie total am Arsch waren. Die letzten, die aufzumucken versuchten, bekamen einen Tritt in den Ihren.

Er schüttelte den Kopf um auch diese Gedanken zu vertreiben, da ein Klicken hinter ihm andeutete, dass der Präsident nach dem restlosen Schließen seiner Hose zu seiner Verfügung stehen würde. Er ließ jenem genug Zeit ihn zu bemerken und anzusprechen.
„Thor, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?“
„Herr Präsident, ich muss Ihnen eine wichtige Mitteilung machen. Ich beabsichtige, mich an der ‚Thanatos-Mission‘ aktiv zu beteiligen und werde alle meine Ämter zur Verfügung stellen.“ Ehrlichkeit führt nicht zu Verstrickungen. Sie währte am Längsten. Außerdem war ihm mittlerweile vollkommen egal, was ein taradorischer Präsident für eine Meinung von ihm haben könnte.
„Aber Thor, Sie können sich doch auch an der Mission beteiligen, ohne sich aller Ehren zu entledigen.“ Sagte der Präsident.
Ehre. Valig hätte fast gelacht, bewahrte aber Haltung. Nein, morgen hätte er diesen Schritt nicht mehr über sich gebracht. Er hätte fliehen müssen.
„Nein, Herr Präsident, ich fürchte, diese neuen Aufgaben fordern meine gesamte Aufmerksamkeit und dies möglicherweise für eine sehr lange Zeit. Sie werden noch heute meine schriftliche Rücktrittserklärung erhalten. Ich muss auf meiner Entlastung bestehen. Würdige Anwärter auf meinen Posten gibt es hier genug.“
„Verstehe, Thor. So schwer es mir fällt, einen so wichtigen Berater an meiner Seite gehen zu lassen…“ sagte der Präsident, setzte sich an seinen Schreibtisch, faltete die Hände auf der pedantisch aufgeräumten Tischplatte und blickte ihn voller Wehmut an. Doch dann nickte er und sagte noch: „Es war mir eine Ehre, mit Ihnen arbeiten zu dürfen, Thor. Viel Glück und Erfolg bei Ihren zukünftigen Vorhaben und danke, dass Sie mich eingeweiht haben, bevor ich es aus der Presse erfahren muss.“
„Danke, Herr Präsident, leben Sie wohl.“ Valig wandte sich ab und verließ das Büro auf dem Weg zu dem seinen, in dem er seiner Assistentin das Rücktrittsgesuch diktieren und seinen Platz für einen Nachfolger räumen würde. Für immer.

Eine neue Welt 12

Dr. Sinar betrat das Schiff mit gemischten Gefühlen. Einerseits freute sie sich auf die wissenschaftliche Herausforderung und die Zusammenarbeit mit einem durchaus namhaften Großmeister der „Homin“. Andererseits fürchtete sie das Ungewisse.
Als sie in der Zwischenebene am Trainingsraum vorüberging, nahm sie wahr, wie sich Lionas drinnen körperlich auspowerte. Sie schob nur kurz die Tür auf, um ihm ihre Anwesenheit an Bord zu verkünden, wartete aber keine Antwort ab sondern begab sich auf direktem Wege zur Brücke.
Sie war unter „Skolari“ aufgewachsen und hatte deren warme, wissbegierige Art schätzen gelernt. Die Fraktion hatte sich vor Jahrzehnten von der restlichen Menschheit abgeschottet und ging gezielt dem Erlangen und Bewahren des Wissens nach, was dem Wesen der „Vierten Fraktion“ sehr nahe kam. Umfangreiche Archive in massiv gesicherten Bunkern gestatteten einen weit zurückreichenden Blick auf die Geschichte dieser Galaxis. Mara Sinar hatte sich stets heimisch und als „Homin“ verstanden gefühlt. Nie waren Kollegen in sie gedrungen oder hatten auf der Herausgabe geheimen Wissens gedrängt. Die „Skolari“ wussten instinktiv, dass ihnen von Sinars Seite stets dann mit solchem Wissen geholfen wurde, wenn man es benötigte. Da das Wissen um die Technologien der früheren Menschheit in der Gegenwart kaum Bedeutung besaß, durfte Mara auf ein beschauliches Leben in einem intellektuell geprägten Umfeld zurück blicken.
Meister Thorvald hatte sie mit zehn Jahren sowohl der Initiation als auch gleichzeitig der Rekonvaleszenz unterzogen. Er hielt eine Tarnung oder Überdeckung der ererbten Erinnerungen im Umfeld der „Skolari“ für unnötig. Dies mochte auch daran liegen, dass ihr als Nachkomme einer eher niederrangigen Erblinie ohnehin keine nennenswerten, geheimen Informationen offen standen. Solche würde sie dem Bordcomputer mit ihrer genetischen Kodierung auch nicht entlocken können. Das lag ihr allerdings auch fern.

Ihr ganzer Stolz war die Entdeckung der „Thanatos“ seinerzeit. Wenngleich Meister Thorvald sie explizit bei Seite genommen und ihr mitgeteilt hatte, dass sie beim Scannen des zu untersuchenden Wurmlochs auch auf die geringsten Ungereimtheiten achten sollte. Als habe er gewusst, wonach wirklich zu suchen war. Sie entdeckte das Schiff aufgrund der von Scannern ermittelten, ungewöhnlich intensiven Lichtabsorption. Im All wirkte das Schiff schwärzer als seine eintönig schwarze Umgebung. Mit geschickten Manöveranforderungen sorgte sie dafür, dass das Forschungsschiff bei der Messung des energetischen Ausstoßes des Wurmloches unwillkürlich auch den unnatürlichen Schatten davor auffing. Auf dessen nähere Untersuchung konnte sich Sinar dann konzentrieren, ohne in Verdacht zu geraten, etwas dergleichen geplant zu haben.
Der taradorische Kapitän hatte sich mit all den Lorbeeren behängen lassen, die ein solcher Fund in seinen Reihen hergab. Sinar mochte die „Taradori“ eigentlich nicht. Sie waren egoistisch, sowie auf Profit und Selbstdarstellung bedacht. Nur wer auffiel, fiel auch die Karriereleiter nach oben. Ein selbstgefälliges, dummes System mit einer völlig irrationalen Verteilung von Anerkennung. Sinar verstand nicht, worauf sich die „Taradori“ so viel einbildeten. Sie besaßen wirtschaftliche Macht in dieser Galaxis. Das war unbestritten. Doch worauf gründete sich diese? Auf Ausbeutung. Ausbeutung von Menschen. Ausbeutung ganzer Welten. Mit verheerender Wirkung. Wirtschaftliche und politische Macht zu bündeln, schuf ein sich ständig verschärfendes Ungleichgewicht zwischen denen, die arbeiten mussten, um zu überleben und denen, die ihnen Arbeit gaben um nur noch reicher zu werden.
Das Ergebnis waren immer schneller ausgebrannte und restlos ausgebeutete Welten, deren verbliebene Wüsten von der größten, menschlichen Ignoranz zeugten, zu denen diese Rasse überhaupt fähig war. Heuschrecken. Nein, schlimmer. Es gab nicht viele Wesen, die um zu leben ihre Lebensgrundlage vernichteten. „Taradori“ waren ein Krebsgeschwür, ein Virus. Doch diesen Virus konnte man nicht mehr einfach ausrotten. Dafür war er unterdessen zu mächtig. Er würde weitere Welten gnadenlos ausbluten und vernichten. Wer diesem Moloch entgegen zu treten wagte, wurde einfach zermalmt. Eine „Influenza Galactica Viralis“.
Zorn kochte in ihr hoch. Sie war eine „Homin“. Sie wusste um die Geschehnisse auf der Erde und den Grund für ihre Aufgabe. Auch damals war es letztlich genau dieses Vorgehen. Die Wirtschaft nahm in allen entwickelten Industriestaaten auch politische Macht in Anspruch, lenkte oder kaufte Politiker oder delegierte Angestellte in politisch relevante Funktionen. Lobbyismus.
Mit der Bildung der Fraktionen nach der Schlacht um Mosul, der letzten im Interstellaren Krieg vor etwa sechzig Jahren, hatten sich zwar wieder politische Systeme gebildet, sie lieferten allerdings bei den „Taradori“ wieder genau das Bild ab, dass die Erde untergehen ließ.
„Skolari“ waren stolz auf ein breites, demokratisches System, dass tatsächlich jedem ein Mitspracherecht zugestand. Man hätte es in seiner Selbstlosigkeit fast ein kommunistisches System nennen können. Niemand beanspruchte eine Führungsposition im engeren Sinne. Wer das Sagen hatte und Entscheidungen treffen durfte, wurde an den Erfolgen einer Person gemessen. Nicht an wertlosen, politischen Aussagen, nicht an vernebelnden Lügen.
Zweifellos waren auch die vergeistigten „Skolari“ keine Engel. Sie mussten leben. Dass sie dabei unter Umständen Kriegsgerät an einander verfeindete Parteien lieferten, verursachte ihnen kaum Gewissensbisse. Zum Einen, weil sie um das heuchlerische Dasein der „Taradori“ wussten und ebenso um die niemals ausreichende Macht der „Martian“, die Wirtschaftsgiganten zu gefährden. Freilich traf auch so manche, skolarische Waffe einmal einen eigenen Betrieb. Das Vertrauen in die eigene Technologie war jedoch stets gerechtfertigt. Ernsthafte Auseinandersetzungen gab es zwischen den Denkern und den Kriegern an sich nicht. Die „Martian“ brauchten die „Skolari“ und die „Taradori“ lebten von ihnen und ihren Innovationen ebenfalls nicht schlecht. Solange sich letztere mit ihren weltenverschlingenden Rohstoffmaschinen von skolarisch dominierten Planeten und Monden fern hielten, lief alles hervorragend. Niemand hatte Grund zur Klage.
Es handelte sich um ein Status Quo, an dem keiner der Beteiligten ernsthaft rütteln mochte.
Warum machte sich Sinar auch immer wieder Gedanken um die Menschen dieser Galaxis. Vielleicht wünschten sie sich gar keine Veränderungen. Vielleicht wäre es das Beste, dieser Galaxis schlicht den Rücken zu kehren, in eine neue Welt zu verschwinden und alle Brücken abzubrechen.

Sie atmete tief durch, verbannte ihre kreisenden Gedanken in einen entfernten Winkel ihres Gehirns und machte sich konzentriert an die Auswertung bestehender Protokolle und die Implementation neuer. Lionas wünschte einen Testflug mit minimalistischer Besatzung. Genaueres hatte er nicht verlauten lassen. Meister Thorvald würde in den nächsten vierundzwanzig Stunden auf Shingan eintreffen. Sein Rücktritt hatte für ein paar Tage etwas Wirbel und völlig falsche Unterstellungen in der Presse hervorgerufen, doch ihr Mentor hatte jede auf ihn einprasselnde Frage nur mit einem lächelnden ‚Kein Kommentar‘ abgetan. Sie bewunderte ihn für dessen Gelassenheit in dieser doch sehr ungewöhnlichen Situation. Sie würden in der Befehlsstruktur an Bord einander gleichgestellt sein. Andererseits… was bedeutete schon ein hohes, politisches Amt der „Taradori“ für einen „Homin“. Nichts. ‚Zurück an die Arbeit!‘ beschimpfte sie sich in Gedanken selbst. Es gab viel zu tun.
Lionas hatte angemerkt, dass er vorläufig die Steuerung des Schiffes selbst übernehmen würde, die Waffenkonsole bis auf Weiteres unbesetzt bliebe und sowohl Sinar als auch Valig um die Auswahl einer minimalen Crew von etwa zwanzig Mann gebeten. Je mehr „Homin“ darunter wären, umso besser. Nun damit konnte sie nicht dienen. Weder kannte noch erkannte sie Ihresgleichen. Meister und Großmeister beherrschten diesen Trick. Doch sie würde „Skolari“ in die Besatzung holen. Diese leisteten zumindest vernünftige Arbeit auf einer Forschungsmission.
Mit dem Jungfernflug war allerdings erst in einigen Tagen zu rechnen, da die Nanniten gerade damit beschäftigt waren, die glänzende Lackierung des Rumpfes wieder abzustumpfen. Auf dieses Defensivplus wollte der Großmeister auf keinen Fall verzichten. Sie ahnte nur, was er wohl vorhaben mochte, verstand den dahinter liegenden Plan jedoch nicht.
Anweisungsgemäß scannte Sinar von Lionas vorgegebene Sektoren nach Flottenbewegungen, ergänzte Protokolle, die den Betrieb des Schiffes mit kleiner Mannschaft gestatteten, prüfte die genetischen Fingerabdrücke auf ihre Gültigkeit und setzte einige Nachrichten ab, deren Sinn sich ihr nicht erschloss. Der Großmeister würde wissen, was er damit bezweckte. Sie führte nur aus.

Eine neue Welt 13

Lana hatte einen Entschluss gefasst. Rat Larson hatte sie weder beschimpft noch gerügt, machte jedoch deutlich, dass er ihre vorschnelle Handlungsweise missbilligte. Vielleicht hatte sie auch vorschnell gehandelt, als sie ihm Verschleierung und doppeltes Spiel vorwarf.
Auf alle Fälle war ihr klar geworden, dass sie trotz aller gegenteiligen Behauptungen ihrer Eltern oder auch Vorgesetzten wohl doch kein so überdurchschnittliches Gespür für diplomatische Tätigkeit besaß. Wie anders war es zu erklären, dass sie nur allzu schnell bereit war, geheime Informationen an einen erklärten Feind der „Taradori“ weiterzugeben. Nun, so schlimm war es nun vielleicht auch wieder nicht, besann sie sich. Lionas war ein „Homin“, kein „Martian“ mehr. Dennoch. Unbesonnenheit war ein Fehler, der einem auf dem diplomatischen Parkett nur allzu oft das Genick brach.
Die Assistentin Rat Larsons teilte ihr nur kurz angebunden mit, dass sich ihr Chef in einer Besprechung befand und nicht gestört werden wolle. Sie teilte ihr daher ebenfalls nur schmallippig mit, dass sie, Lana Geser, nicht länger im diplomatischen Dienst verbleiben könne, da sie sich vollständig auf ihre Beobachtertätigkeit bei der „Thanatos-Mission“ konzentrieren wolle.
„Moment.“ sagte die Assistentin und rief offenbar doch ihren Chef an, da sie sich nicht nachsagen lassen wollte, so schwergewichtige Informationen nicht weitergeleitet zu haben. Eine Minute später hatte Lana sie wieder am Ohr. Offenbar leicht verwundert sagte sie nur: „Rat Larson übermittelt Ihnen seine Grüße und respektiert Ihre Entscheidung.“
Lana war sich sicher, dass das nicht genau die Worte waren, die Larson gewählt hatte und war im Nachhinein froh, sich nicht erneut mit diesem arroganten Kerl abgegeben zu haben.
Ihre scheinbar glänzende Karriere war offenbar beendet. Dabei hatte diese recht vielversprechend begonnen. Lana Geser gehörte zu den Jüngsten, die je das volkswirtschaftliche Studium mit Auszeichnung abgeschlossen hatten. Sie besaß ihren Doktortitel mit knapp zwanzig Erdenjahren und war mit nicht einmal dreiundzwanzig bereits taradorischer Konsul auf Shingan, ihrer Heimatwelt. Eine Blitzkarriere die sie primär ihrem einflussreichen Vater zu verdanken hatte. Vargo Geser war leitender Geschäftsführer der „Shingan Vario Naturals“, einer Aktiengesellschaft, die die Entwicklung Shingans maßgeblich geprägt hatte. Einige Geschäftsübernahmen, -zusammenschlüsse und -zerschlagungen später, wurde die „Vario Naturals“ zu einem Bestandteil der „DIE“, der Kooperation für „Defense, Innovation and Exploration“ einem interplanetaren Wirtschaftsgebilde.
Als dominierende Fraktion und größtes Wirtschaftsunternehmen Shingans hatte sich die „DIE“ entschlossen, auch Regierungsverantwortung zu tragen. Das Regieren durch Konzerne hatte sich in der unendlich langen Historie Cybaeas bewährt. Kurze Entscheidungswege. Wirtschaftliches Wachstum und politische Stabilität. Dabei delegierten die einzelnen Unternehmen der dominierenden Fraktion Abgesandte in die politischen Gremien. Das Unternehmen verschaffte der jeweiligen Welt Sicherheit, Wohlstand und Komfort. Auf kleinen Welten gab es in der Regel Gouverneure, die solche Verwaltungsaufgaben wahrnahmen.
Die „DIE“ – das zweideutige Wortspiel störte sie nicht, denn ihr Vater als Gründervater der Kooperation hatte schon immer Sinn für schwarzen Humor besessen – setzte sich aus etwa einem Dutzend unterdessen riesiger, multinationaler und fraktionsübergreifend agierender Unternehmen zusammen. Lana kannte nur einen Bruchteil dieser Konzerne. Ihres Wissens nach gab es auch zwei martianische Unternehmen, die ihre Söldnertätigkeit beziehungsweise den Sicherheitsdienst der Kooperation als regulären Geschäftsbereich betrieben. Sie kannte deren Geschäftsführer und wusste um deren Loyalität gegenüber der „DIE“. Ausnahmen.

Die „Martian“… Um wie viel angenehmer wäre eine Galaxis ohne diese Störenfriede und Raufbolde. Jede Neuansiedlung eines taradorischen Betriebes wurde zumindest durch Jägerattacken erschwert. Wären ihre Betriebe nicht massiv geschützt und stände die Bevölkerung der betreffenden Welten nicht ausnahmslos hinter den „Taradori“, die ihnen den Wohlstand statt des Krieges brachten, hätte dies massive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung aller taradorischen Unternehmen und damit der taradorischen Zivilisation.
Gut, ein Wohlstand der breiten Masse bedurfte natürlich auch einem permanenten Zustrom von Ressourcen und Versorgungsgütern. Gäbe es nicht die permanenten Nadelstich-Attacken der „Martian“, ihre dreisten Diebstähle und hinterhältigen Überfälle auf Regierungsgebäude, könnte die „DIE“ noch wesentlich mehr Welten angemessenen Komfort beschaffen. Das wirtschaftliche Wachstum erforderte auch Neuerschließung immer neuer Rohstoffquellen. Nie waren die Taradori dabei einer der anderen Fraktionen auf die Zehen getreten. Vermutlich war es schlicht Missgunst. Neid auf den überdurchschnittlichen, wirtschaftlichen und damit auch politischen Erfolg der „Taradori“. Die „Martian“ waren keine Wirtschaftsmagnaten. Sie buddelten im Dreck und nahmen die Ressourcen, die sie fanden. Konzeptfrei und hirnlos.
Die Führer der Mars-Fraktion faselten stets von Ausbeutung ganzer Welten, von Entvölkerung und Verwüstung durch die „Taradori“. Doch Lana war auf den meisten Welten gewesen, die die „DIE“ betreute. Die Bevölkerung arbeitete angemessen und gern für die „DIE“, welche ihre Angestellten mit eigenen Wohnungen, einem guten Auskommen und einem hohen Maße materiellen und intellektuellen Komforts entlohnte.
Ja, auf den kleinen, unbedeutenden Welten ließ der Komfort mitunter etwas zu wünschen übrig, sah man nicht nur lachende und freundliche Gesichter. Dass aber die „Martian“ herumzogen und die Bevölkerung zu Aufständen anzettelte, ging definitiv zu weit. Die zur Befriedung der regierten Welten angeheuerten Streitkräfte waren genaugenommen täglich im Einsatz. Löschte man ein Feuer, zündelten die „Martian“ an einer anderen Stelle.
Zum offenen Kampf stellten sie sich in solchen Fällen nie. Einen offenen Angriff auf hoch entwickelte, taradorische Welten hatte es auch schon seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Kleiner Diebeszüge unbelehrbarer „Martian“ musste man sich zwar immer mal wieder erwehren aber offenen Kampf? Nein, nicht die „Martian“. Waren stolz auf ihre Kriegerehre, dabei waren sie eher feige Hinterwäldler.
Ihr Vater hatte sie schon frühzeitig in die politischen Gegebenheiten eingeweiht. Ohne den permanenten Zufluss an Innovationen aus den Labors der „Skolari“ hätte man sich, so sagte er, schon vor mehr als zwanzig Jahren dem Chaos und der Willkür ergeben müssen. Die „Skolari“ seien damit ein notwendiges Übel. Obwohl ihr Vater sie nicht mochte, besaß sie ein paar wirklich gute Bekannte in den Reihen der skolarischen Diplomatie.
Freundschaften mit „Skolari“ gab es kaum, da sie meist sehr introvertiert und egozentrisch veranlagt waren. Es war mehr eine Art Hassliebe zwischen „Taradori“ und „Skolari“. Man brauchte einander. Die „Taradori“ lebten von den Innovationen, die „Skolari“ liebten das Geld, dass Ihnen ihr Knowhow einbrachte. Außerdem waren die „Skolari“ auf Grund ihres vergeistigten Wesens kaum zu ökonomischem Handeln fähig. Brauchten sie Ressourcen, kamen sie zu den „Taradori“. Brauchten sie Produktionskapazitäten, kamen sie ebenfalls angerannt.
Dass „Skolari“ gewissenlose Geschäftemacher waren, wusste man in diplomatischen Kreisen der „Taradori“ natürlich. Ihnen war vollkommen egal, wem sie ihre Hochtechnologie in den Hals warfen, wenn nur genug dabei heraussprang. Hätten sich die Denker einmal wirklich Gedanken gemacht und sich auf die nachgewiesen erfolgreiche Seite der „Taradori“ gestellt, gäbe es die Martian-Fraktion längst nicht mehr. Sie wäre ausgehungert worden.
Doch nein, die „Skolari“ setzten alles daran, den derzeitigen Status Quo zu halten. Ihr war das unverständlich.

Eine neue Welt 14

Obwohl auf Lionas‘ Wunsch nur eine kleine Mannschaft an Bord war, schien das Leben in dem alten Kasten zu rumoren. Die kleine Schar aus Technikern, wissenschaftlichen Assistenten und ein paar Gunmen lief geschäftig durch die Flure des Schiffes. Nach Aussage von Tiberian Zack, dem Chief und seiner zwei Ingenieure, würde die „Thanatos“ voraussichtlich binnen der kommenden vierundzwanzig Stunden startbereit sein.
Leider war es Lionas nicht gelungen, einen „Homin“ für den Maschinenraum aufzutreiben und er musste daher Chief Zack einer nicht ganz schmerzfreien Prägungsprozedur unterziehen, die jenem die Bedienung der genetisch gesperrten Konsolen des Maschinendecks gestattete. Er hatte, wenn man so wollte, ein wenig in seinen Genen herum gepfuscht. Es handelte sich dabei allerdings um keinen bleibenden Effekt. Lionas brauchte einen „Homin“ für diesen Posten.
Dr. Sinar hatte ihn mit einer kleinen Auswahl an Personalakten versehen. Lionas schmunzelte, als er sah, dass es sich dabei ausnahmslos um „Skolari“ handelte. Dieses Schubladendenken hatte sich in den letzten Jahrzehnten wirklich bis in die letzte Instanz hinein ausgebreitet. Er wählte drei Kandidaten für die wissenschaftliche Sektion aus. Darunter auch Dr. Tansa, einen Ingenieur, den er Chief Zack zuteilte und eine Assistenzärztin für Quintos Abteilung.
Finn Quinto, der Bordarzt und die Assistenzärztin hatten ebenfalls bereits ihr Quartier bezogen. Da die Krankenstation komplett neu ausgestattet worden war, brauchte es an dieser Stelle keine hominschen Spezialisten mehr. Lionas wusste allerdings, dass sich noch ein paar Apparaturen an Bord befanden, ohne die die „Homin“ im schlimmsten Falle aufgeschmissen waren. Dies betraf insbesondere die genetischen Manipulatoren und Codiersysteme. Doch um jene machte sich Lionas keine Sorgen. Die Tresorräume öffneten sich nur mittels des genetischen Fingerabdrucks mindestens zweier Brückenoffiziere aus den Reihen der „Homin“. Und seinesgleichen waren nur drei in der ganzen Mannschaft.
Für einen „Testflug“ würde die aktuelle Mannstärke ausreichen. Seinen „Testflug“.
Er hatte es nicht für nötig erachtet, die gesamte Mannschaft ins Bild zu setzen. Außerdem hatte er den Eindruck, dass den „Taradori“ sehr wohl bewusst war, wie es um die Manöverstärke der „Thanatos“ bestellt war, wenn nicht mindestens die Brückencrew aus „Homin“ bestand, die alle benötigten Systeme online bringen konnte. Nein, er würde nicht mit einem kastrierten Schiff ins Ungewisse aufbrechen. Das wäre kollektiver Selbstmord gewesen.
Doch wenn die „Homin“ nicht zu ihm kamen…

Er schlenderte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen durch die Gänge des Schiffes. Den vorüber Eilenden schenkte er auf deren militärische Ehrenbezeigung hin ein wohlwollendes Nicken.
Die „Taradori“ hatten in den letzten Tagen Fleißarbeit geleistet. Auf der Basis eines historischen Entwurfes der hominschen Uniform haben sie neue Uniformen für die Besatzung gezaubert. Der Schnitt ähnelte denen der ursprünglichen Uniform, war nur etwas legerer geschnitten. Das Material trug sich angenehm, leicht und wärmte oder kühlte je nach Umwelteinflüssen. Im Unterschied zu den typischen Uniformen der Fraktionen waren diese grau und besaßen lediglich einen Brustbutton und ein Namensschild in Fraktionsfarbe. Beides konnte an und abgeheftet werden.
Lediglich seine Uniform hob sich von den anderen ab. Nicht dass er dies explizit so hätte haben wollen. Das war schlicht dem Obrigkeitsdenken der „Taradori“ geschuldet, die einen deutlich Ranghöheren hervorzuheben meinten. Sie war weiß, schmutzabweisend und besaß dunkle Applikationen und Biesen. Er hatte sich entschlossen, auf die von den „Taradori“ gelieferten Rangabzeichen zu verzichten. Alle an Bord wussten, wer er war und er konnte sich problemlos an jedes Gesicht und den zugehörigen Namen erinnern, wenn er das wollte. Die Vornamen von zwei Dritteln der Mannschaft schienen ohnehin „Doktor“ zu sein.
Halb in Trance war er unbewusst bis zum Hauptschott gegangen und blickte hinaus in den Hangar. Noch immer in Gedanken versunken, wäre er fast mit der heranstürmenden Lana Geser zusammen geprallt. Sie hatte nur leichtes Gepäck. Entweder erwartete sie nur einen kurzen Ausflug oder sie war die untypischste Frau an die sich Lionas erinnern konnte. Und das wollte etwas heißen, wenn man sein mentales Alter von schätzungsweise achthundert Erdenjahren berücksichtigte. Lionas musste unwillkürlich schmunzeln.
Auch Lana Geser hätte ihn trotz seiner leuchtenden Uniform fast übersehen.
„Seit der Lack wieder ab ist, wirkt dieses Monstrum schon ziemlich unheimlich. Verschwimmt einem vor den Augen, dass man kaum noch den Eingang findet.“
„Konsul Geser, das ist so gewollt.“ sagte Lionas mit einem Lächeln.
„Lana oder Miss Geser. Der Konsul ist Geschichte.“ brummte sie mehr zu sich selbst.
„Oh, darf ich Ihnen gratulieren oder muss ich Sie bedauern?“ fragte Lionas noch immer lächelnd.
„Sparen Sie sich Ihren Zynismus, Admiral. Ich bin immer noch ein diplomatischer Vertreter und offizieller Missionsbeobachter der ‚Taradori‘ hier an Bord.“
„Wenn das so ist. Herzlich willkommen an Bord, Miss Geser.“ sagte der Admiral, ohne sich im Mindesten an der soeben erhaltenen Abfuhr zu stören, wobei er das ‚Miss‘ sehr deutlich betonte.
Als Lana einem vorbei rauschenden Crew-Mitglied ihre Tasche in die Hand drücken wollte, blies dieser nur die Backen auf, prustete und ließ sie stehen.
„Lana, darf ich Ihnen vielleicht behilflich sein. Schließlich sind Sie ein gern gesehener Gast auf meinem Schiff.“ bot Lionas an.
Lana drückte ihm mit einem deutlich aufgesetzten Lächeln ihre Tasche in die Hand. Sie wollte sich nicht mit dem „Homin“ über Besitzverhältnisse an diesem Schiff streiten. Eigentlich waren diese ihr mittlerweile auch herzlich egal.
„Ich war so frei, Ihnen Kabine zwölf auf dem Offiziersdeck vorbereiten zu lassen. So sind sie etwas abseits des Trubels, der für gewöhnlich im vorderen Teil des Flures herrscht.“ sagte Lionas mit völlig neutralem Tonfall, als sie die Stufen zum Mannschaftsdeck erklommen.
„Aha, ich soll den ‚Trubel‘ also aus der Ferne beobachten?“ sagte sein Gast fast schnippisch. Er musste unwillkürlich grinsen. Was es ausmachte, wenn eine Frau sich plötzlich nicht mehr diplomatisch vornehm und vorsichtig bewegen muss. Und er hasste an manchen Tagen seine nahezu ewig erscheinende Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht.
„Wäre Ihnen eine andere Kabine lieber, Miss Geser?“ Natürlich war sie das. Und vorbereitet war tatsächlich auch diese. Wer wollte schon in der Besenkammer übernachten.
„Ich muss an den Puls der Zeit, wenn ich mir ein Bild vom Fortgang der Mission machen will… Wie wäre es mit der Kabine gegenüber?“
„1. Offizier.“ sagte Lionas kurz.
„Daneben?“
„Leitender Wissenschaftsoffizier.“
„Und daneben?“
„Kommunikationsoffizier.“
„Und neben Ihrer?“
„Waffenoffizier.“
„Ok, Also ist die gegenüber und neben ihnen noch frei.“ stellte sie fest.
„Nur weil wir noch keinen 1. Offizier an Bord haben, heißt dies nicht, dass ich dessen Kabine meistbietend verschachere. Er wird in den nächsten Wochen dort einziehen.“ sagte Lionas schärfer als beabsichtigt.
„Wowowow, sachte Lionas! Das war ja nur eine Frage. Wann zieht der Waffenoffizier ein?“
„Das weiß ich noch nicht.“, sagte Lionas wenngleich das gelogen war. Sein alter Mentor stand zwar in der zeitlichen Abfolge seiner Rekrutierungspläne nicht an erster Stelle, wohl aber an einer der ersten. Es würde maximal drei Wochen dauern, bis er an Bord käme.
„Könnte ich dann dieses Zimmer haben?“ fragte Lana nun etwas zurückhaltender.
„Ja, Sie können und Sie werden. Den Waffenoffizier quartiere ich um.“ sagte Lionas ruhig.
„Danke sehr, Lionas“ sagte Lana Geser, die sich sicher wähnte, einen Kampf gegen den selbsternannten Admiral gewonnen zu haben.
Er schob das kleine Schott zu Lanas neuem Quartier auf und ließ sie vorgehen. Der Raum war komfortabel und geschmackvoll eingerichtet allerdings nicht sehr groß. Dies war auch der Grund, warum Lionas ihn nie hätte seinem Mentor anbieten können, der seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten die Weitläufigkeit eines Kapitänsquartiers gewohnt war. Alles lief wie am Schnürchen.
„Danke, das ist sehr nett.“ sagte Lana. Ob sie das Zimmer oder sein Verhalten meinte, ließ sie offen. Lionas war es gleich. Er deutete eine Verbeugung an und verließ Lanas Kabine.
„Nun muss es mit dem ‚Testflug‘ nur noch ebenso gut funktionieren…“ murmelte er fröhlich.

Eine neue Welt 15

Lana streifte ziellos durch das Schiff. Das geschäftige Treiben hatte deutlich nachgelassen. Alle warteten auf den Startbefehl. Doch Lionas ließ sich Zeit. Den größten Teil des Tages verbrachte er damit, sich entweder im Fitnessraum zu schinden, sich in die alten Logbücher zu vertiefen oder diverse Kommunikationen zu führen. Allerdings war sich Lana sicher, dass der erste Testflug unmittelbar bevor stand. Es war reichlich Uran an Bord verstaut worden, um die Reaktoren in Gang zu bringen und zu halten. Man hatte sie aufwändig umgerüstet. Erklären konnte sie sich nicht, was man an Generatoren und Antrieben ändern müsse, damit sie funktionieren. Aber Lana kannte und verstand die alte Technologie auch nicht wirklich.
Als sie gedankenverloren in der Offiziersmesse stand und auf den Aufzug wartete, entschloss sie sich einem Impuls folgend, bei Lionas im Quartier vorbei zu schauen und sich nach dem anstehenden Testflug zu erkundigen. Vor dessen Tür angekommen, betätigte sie den Rufknopf. Unmittelbar darauf öffnete sich die Tür des Kapitänsquartiers und sie trat ein. Lionas musste eben geduscht haben, denn er stand vor der Nasszelle und trocknete seine Haare ab. Er war nackt.
Schnell wandte sie sich ab und fragte nun zur Tür gewandt: „Sie hätten mich doch nicht einlassen müssen, wenn Sie gerade unpässlich sind, Lionas.“
„Ich bin nicht unpässlich, ich bin unbekleidet.“ Er lachte. „Müsste ich mich dessen schämen, was Sie zu sehen bekommen, Lana?“
Sie drehte sich demonstrativ um und musterte ihn nun eingehend. Die letzten Wochen im Fitnessraum hatten seinen ursprünglich etwas gedrungen wirkenden Körper wieder sichtbar gestählt. Nein, er musste sich seines Körpers wahrlich nicht schämen. Breite Schultern, eine muskulöse, breite Brust zum Anlehnen, einen angedeuteten Sixpack und … Naja, er war sichtlich gut gebaut. Wärme durchflutete sie, tönte ihre Wangen. Wie lange war es her, dass sie sich so nah bei einem nackten und attraktiven Mann befunden hatte? Zu lange…
„Nein, Lionas.“ sagte sie „es scheint alles am Platz und in Form zu sein.“ Lana trat ein paar Schritte zurück und lehnte sich möglichst lässig wirkend in den Türrahmen.
„Ich wollte mich nur erkundigen, für wann Sie den Testflug geplant haben.“ Lanas Augen wollten sich einfach nicht an Lionas Gesicht halten und sanken immer wieder an seinem Körper hinunter. Als sie wieder bei seinem Gesicht ankamen, grinste er das mehrdeutige „Brin-Stenyard-Grinsen“. Nein, eindeutig zweideutig.
„Lana, ich möchte Sie auf keinen Fall in Verlegenheit bringen und werde mich daher mal in Schale werfen. Das dauert nur eine Minute.“
Er stieg gelassen in einen eng sitzenden Slip, ein den Oberkörper deutlich betonendes Shirt, zog sich frische Füßlinge über, die er geschickt aus seinem Schrank fischte und bedeckte dieses wohltuend und für Lana erheblich beruhigender wirkend mit seiner strahlend weißen Uniform. Nun besaß er wieder seine Amtswürde und sie konnte innerlich etwas auf Abstand gehen. Doch die Wärme war noch immer da. Und sie strahlte aus Ihrem Gesicht und, was wesentlich beunruhigender auf sie wirkte, aus ihrem Schoß.
„Sir, ich werde dann jetzt gehen. Es ist mir unangenehm, Sie in eine kompromittierende Lage gebracht zu haben.“ sagte sie schnell und wollte bereits die Tür öffnen.
„Moment, Lana, Sie haben mir eine berechtigte Frage gestellt, die ich Ihnen auch bereitwillig beantworten mag.“
Er war wieder ganz Lionas, dachte sie. Das primitiv Animalische war verschwunden.Schade. Sie hätte sich für diesen Gedanken schon wieder ohrfeigen mögen.
„Heute nach Einbruch der Dunkelheit brechen wir auf. Wir können dann auf den Einsatz der energieintensiven Tarnung verzichten. Die Antriebe arbeiten leise und ohne sichtbare Spuren. Wir werden also ziemlich nah dran sein an der Unsichtbarkeit.“ Lionas lächelte höflich.
„Sie dürfen mir dann gern Gesellschaft leisten.“ sagte er noch schnell, bevor sie den Türöffner betätigen konnte.
„Lionas, ich mag eine Frau sein, die schon längere Zeit Verzicht geübt hat, aber …“
„Auf der Brücke, Lana, auf der Brücke. Ich fürchte, Sie missverstehen mein Angebot.“ Lionas gestand sich ein, dass er ihr jedes erdenkliche Angebot hätte unterbreiten können. Geschlagen hätte sie ihn dafür nicht. Er sah es in ihren Augen. Es war so klar ersichtlich, als wäre es eine Leuchtschrift auf ihrer Stirn.
„Natürlich, Lionas, selbstverständlich. Ich werde da sein.“ Sie verließ das Quartier mit tief rot leuchtendem Gesicht und hoffte inständig, dass sie niemand auf den wenigen Metern zu ihrem Quartier würde sehen können.

Lionas grinste wieder. Diese zutiefst menschliche Regung ließ sich weder leugnen noch verurteilen. Sein Jahrhunderte überdeckendes Gedächtnis zeigte ihm zahllose Frauen, die seine Vorfahren gehabt hatten. Deren Erinnerungen waren die seinen. Viele mochten durchaus noch attraktiver gewesen sein. Viele weit erotischer. Doch Lana Geser war ein durch und durch erotisches und damit auch überdurchschnittlich attraktives, weibliches Wesen. Wichtiger noch, ein Lebendiges.
Ihre Weiblichkeit war ihm erst in den letzten Minuten wirklich bewusst geworden. Und das von ihr gefällte Urteil über seine Erscheinung schmeichelte ihm. Er selbst nahm die dem Sport zu verdankenden Veränderungen nicht wirklich wahr. Sah er sich doch täglich mehrere Male im Spiegel.
Obwohl er die Situation nicht bewusst herbei geführt hatte, gab es für ihn auch keinen Grund, sich ihr nicht zu stellen und sie gehörig auszunutzen. Sie hatte definitiv angebissen. Und dies bei einer so plumpen Zurschaustellung. Sie war so jung. So unerfahren. Was konnte eine Frau von Mitte zwanzig einem gewieften Halunken von locker achthundert Jahren schon entgegen setzen?
Er wandte sich zum Spiegel um und betrachtete sich noch einmal eingehend. Die Uniform saß auf Maß, wie sein unheimliches Grinsen. Es dauerte einige Augenblicke, dieses von seinem Gesicht zu verbannen. Hoffentlich würde er bei ihrem Erscheinen auf der Brücke diesem tierischen Anflug sexueller Begierde und diesem bescheuerten Grinsen Einhalt gebieten können. Anderenfalls könnte er ihr auch gleich auf die teuren Schuhe sabbern.
Allein mit diesem Bild vor Augen, brach ein ihn doch erheblich erleichterndes Lachen aus ihm heraus. Es war ihm ziemlich egal, ob seine Nachbarin dies hörte und auf sich bezog. Er konnte nicht anders. Es musste einfach raus.