Eine neue Welt 6

Die Luke war nicht sehr groß, schien aber gleichzeitig die Ladeluke zu sein, denn sie betraten als erstes einen mäßig großen Laderaum. Brin schätzte ihn auf vielleicht hundert Standardpaletten. Ein paar Paletten standen einsam herum. Vermutlich handelte es sich dabei um Material zur Energieversorgung des Schiffes.
Der ganze Rumpf schien vor Energie zu summen. Stenyard nahm es zur Kenntnis und trat durch ein schweres Schott in einen schmalen Gang. Im hinteren Teil des Flures befand sich eine Treppe nach oben. Diese führte vermutlich zu den Mannschaftskabinen, während es geradeaus zum Maschinenraum gehen musste. Woher wusste er das? Er kannte viele Schiffe, in denen es ähnlich aussah. Vielleicht erklärte dies auch sein Déjà-vu Erlebnis in diesem Moment. Es bestand kein Zweifel daran, dass er dieses Schiff noch nie in seinem Leben betreten hatte. Wie auch. Er schüttelte leicht den Kopf, um ihn wieder frei zu bekommen. Lana Geser bemerkte dies nicht, da sie voraus ging.
„Ich würde gern zuerst den Maschinenraum besichtigen.“ sagte Stenyard, als seine Begleiterin den Griff nach dem Handlauf der Treppe ausstreckte. Sie lächelte höflich und nickte nur, während sie der Tür am hinteren Flurende entgegen strebte.
Der Maschinenraum lag weitgehend im Dunklen. Brin streckte die Hand nach einem Sensor aus, von dem er instinktiv wusste, wo er zu finden war. Nun, das wusste man in einem vernünftig gebauten Haus auch. Als das Licht aufflammte verstärkte sich das eigenwillige Gefühl Brins weiter. Nein, das war kein Gefühl mehr. Er kannte diesen Maschinenraum als hätte er hier monatelang selbst gearbeitet. Alle Armaturen waren ihm auf Anhieb bekannt. Noch immer versuchte er, diesen Umstand auf seine Erfahrungen der letzten Jahre zu schieben, in denen er viel zeit in den Eingeweiden seiner Schiffe verbracht hatte.
Lana Geser räusperte sich. „Captain, zu diesem Bereich dieses Artefaktes kann ich Ihnen leider gar nichts sagen. Diese Antriebe sind nie in Betrieb gewesen, seit wir das Schiff fanden. Obwohl unsere Wissenschaftler sicher waren, welche Funktion die einzelnen Konsolen ausüben müssten, ist keine von ihnen gestartet.“
„Wie haben Sie das Schiff gelandet, Konsul?“ fragte Stenyard.
„Gar nicht. Das Schiff hing am Haken. Wir haben es geborgen und hierhin geschleppt. Die Systeme sprangen nicht an. Sie bekommen wahrscheinlich keine Energie.“
Brin Stenyard mochte das nicht glauben, denn Energie gab es hier in Hülle und Fülle. Die Hülle summte ebenso, wie die Konsolen selbst. Er konnte mit seiner Meinung auch nicht länger hausieren gehen. Dieses Schiff hatte alles, was es brauchte.
„Nun, Captain, ich kann das nicht beurteilen. Ich bin weder Techniker noch Wissenschaftler. Ich kann nur sagen, was unsere wissenschaftliche Crew geäußert hat. Wenn alles so ist, wie es sein soll, dann fehlt uns ‚das gewisse Etwas‘.“
„Nein, Lana, das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie haben extrem konkrete Vorstellungen davon, was Ihnen hier fehlt.“ Brin grinste, während Lana Geser ihr Lächeln zurück gewann. „Ihnen fehlt ‚der gewisse Jemand‘.“
Stenyard blickte auf die Konsolen. Er kannte sie. Alle. Er schloss die Augen, um sich die Anordnung der Konsolen in seiner Zerberusklasse zu verdeutlichen. Versuchte sich an all die Schiffe zu erinnern, auf denen er zuvor gedient hatte. Nein, diese Konsolen konnte er nicht kennen. Sein Gehirn musste sich in einer Täuschung verrannt haben.
„Lassen Sie uns gehen, Lana. Es gibt sicherlich noch mehr zu sehen.“ Bevor er das Licht am Ausgang zum zweiten Flur wie selbstverständlich löschte, blickte er sich erneut um und verdrängte seine Gefühle, so gut es ging.
Seine Begleiterin sprach in ihren Kommunikator. Brin bekam nicht wirklich mit, worum es ging, denn seine Gedanken kreisten. Sein Unterbewusstsein kochte altes Zeug auf. Ãœberlagerte sein Wissen mit dem Gesehenen. Anders konnte es nicht sein.
„Captain?“
Brin schreckte auf und blickte den Konsul an.
„Captain, auf der Brücke erwarten uns Dr. Sinar, der wissenschaftliche Offizier und Chief Zack, der Systemtechniker.“
Brin nickte nur. Auf dem Weg zur Treppe bemerkte er noch das lautere Brummen im Inneren. Vermutlich befanden sich die Generatoren zwischen den beiden Fluren des symmetrisch aufgebauten Schiffes. Symmetrie ist so typisch menschlich. Sie sorgt für Ruhe und für die benötigte Selbstverständlichkeit der Bedienbarkeit, die allen, ihm bekannten Schiffen eigen ist. Vermutlich machte ihm dies im Moment zu schaffen.
Oberhalb des Generatorblocks würden sich Labore und andere, technische Einrichtungen befinden. Oberhalb der Treppe musste es einen Quergang geben, der zum zweiten Aufgang gegenüber führte und in dessen Mitte der Hauptflur in beide Richtungen abging. Alles war wie immer. Brin entspannte sich, stieg die Stufen hinauf, ging in den erwartet abzweigenden Hauptflur, betrachtete gelassen die Mannschaftsquartiere, bis er zu Offiziersmesse gelangte, die ein Panoramafenster zur Front des Schiffes hinaus besaß. Demnach befanden sich die Quartiere der Offiziere noch einen Flur höher. Da die Kabinen dort größer waren, würde der Flur sich leicht seitlich und nicht genau in Schiffsmitte befinden. Er musste also nur rechts abbiegen, in den Aufzug steigen und sich eine Ebene nach oben tragen lassen.
Seine Begleiterin blieb plötzlich stehen und sah ihn an: „Captain, woher kennen Sie dieses Schiff? Ich erwarte eine ehrliche Antwort.“
„Liebste Lana, ich wäre vorhin nicht so überrascht gewesen, wenn ich es kennen würde. Es entspricht einfach dem typischen Aufbau von Schiffen. Es ist eines von vielen.“
„Captain, das halte ich für vollkommen ausgeschlossen.“
Stenyard blickt sie verwundert an. „Konsul, ich versichere Ihnen, dass ich dieses Schiff noch nie in meinem Leben gesehen, geschweige denn betreten habe.“
„Stenyard, Sie müssen dieses Schiff kennen, denn es entspricht keinem heute bekannten Modell.“
„Lana, ich fliege seit mindestens 20 Jahren mit den Schiffen verschiedenster Klassen. Sie sind alle ähnlich aufgebaut.“
„Captain, Brin, ich muss ihnen widersprechen? Vielleicht kenne ich nicht alle schiffe, habe bisher auf keinem gedient, aber… Bitte folgen Sie mir!“ Sie ging zu einem Terminal und rief Baupläne ab.
Dann sagte sie mit der Hand auf die Pläne verweisend: „Die Zerberusklasse ist vollkommen asymmetrisch aufgebaut, um diese Schiffsklasse im Kampf auszubalancieren. Die Flure sind dadurch verwinkelt.“
Brin versuchte, sich den Aufbau seines Schiffes vor Augen zu führen. Sicherlich hatte er einiges verändert aber…, Lana Geser hatte vollkommen recht. Die Zerberusklasse war eine ausgewogene, ausbalancierte aber in der Bewegungsfreiheit fürchterlich einschränkende Nussschale mit lauter Ecken und Kanten. Ok, an die Zerberus-Klasse hatte er sich dabei wohl nicht erinnert gefühlt. Dann waren es halt die Leviathans, Behemoths oder Transportschiffe.
Lana Geser blätterte zu den anderen Schiffstypen durch. „Ich gestehe ein, sagte sie, dass unsere Informationen zu den Kampfschiffen nicht unbedingt neuesten Datums sind. Aber bitte schauen Sie sich diese Schiffe an. Ich bitte sie. Keines ähnelt der Thanatos.“
Brin verfolgte Gesers Handbewegungen. Die Leviathanklasse besaß mehrere Etagen mit Mannschaftsquartieren, einen innen liegende Offiziersmesse, was dem Schutz diente und keinen frei liegenden Zugang zu den Offiziersquartieren und der Brücke, die sich zudem im Inneren des Rumpfes befand. Nun, das war bei Kriegsschiffen ja auch logisch.
Ein Aeon war zweckmäßig gebaut und besaß keine Offiziersmesse sondern einen Mannschaftsspeisesaal. Die Quartiere dort befanden sich auf der unteren Ebene, die Brücke oberhalb des, fast das gesamte Schiff umfassenden Laderaums. Außerdem lag der Maschinenraum in einem erhöhten Sektor, wie es bei allen Transportschiffen der Fall war, damit die Antriebe nicht das Stauen behinderten.
Der Helios kam in seinem Aufbau der „Thanatos“ noch am nächsten. Er besaß, abgesehen vom ebenfalls oben liegenden Antriebssegment mehrere Etagen. Doch diese lagen alle im hinteren Teil des Schiffes, wo sich auch der Aufgang zur Brücke befand, die oben auf dem Rumpf thronte. Nein, eigentlich hatte auch ein Helios keine wirkliche Ähnlichkeit.
Hinzu kam, dass er, Captain Brin Stenyard, zugehörig der Fraktion der Martian, noch nie in seinem Leben auf einem Helios- oder Imperialfrachter gedient hatte.
Lana Geser sah ihn nun nicht mehr nur an, sie hielt auch eine Energiewaffe auf ihn gerichtet. Brin erstarrte und hob instinktiv die Hände.
„Captain Brin Stenyard, wer oder was zum Teufel sind Sie?“ Doch der Angesprochene zuckte nur mit den Schulter.
„Liebste Lana, das wüsste ich auch gern.“
Lana Geser kontaktierte ihre Sicherheitscrew, nur um letztlich herauszufinden, was Brin ja bereits wusste. Bis heute hatte er sein Schiff nicht verlassen. Die Körperwärmedetektoren hatten ihn permanent innerhalb seines Schiffes erfasst. Es lagen keine Manipulationen vor. Der „Thanatos“ habe sich in den letzten Monaten außer der berechtigten Bodenmannschaft niemand genähert. Sprich niemand wusste von diesem Schiff. Auch Brin Stenyard bis heute nicht.
Seine Begleiterin ließ die Waffe sinken und verstaute sie irgendwo hinter ihrem Rücken. Brin senkte seine Arme, während er überlegte, wo sie diese Waffe in dem derart engen Kostüm überhaupt ließ. Er hatte sie nicht bemerkt. War er fahrlässig geworden?
Ihr musste ein anderer Gedanke gekommen sein. „Captain, beschreiben Sie mir doch bitte, was wir in den beiden oberen Ebenen vorfinden werden.“
Brin konzentrierte sich auf sein Gefühl, das ihn bis hierher geleitet hatte. Die Betrachtung der Schiffsbaupläne hatte ihn irgendwie aus dem Konzept gebracht.
„Moment.“ sagte er, ging ein paar Schritte in den Flur zurück, den sie vorhin gekommen waren und blickte sich lange um. Sein Gefühl schien wiederzukehren. Mit geschlossenen Augen ging er in die Offiziersmesse zurück, wandte sich nach rechts und begann zu sprechen: „Ich benötige fünf Schritte zur Tür des Aufzuges. Dieser trägt mich ein Stockwerk nach oben zu den Offiziersquartieren. Außer über die extrem kalte, äußere Hülle gibt es keinen anderen Weg dorthin. Lüftungssystem und technische Systeme befinden sich auf der oberen Ebene, wenn man diese etwa bis zur Hälfte des Schiffes zurück geht. Dort befindet sich ein Schott mit zwei Radschlössern.
Drehe ich mich um und gehe den Flur zurück in Richtung Messe, komme ich an einer rechts liegenden, unscheinbaren Tür vorbei. Sie ist mit… mit… das ist verschwommen… mit B11 beschriftet. Hinter ihr befindet sich ein Treppenaufgang zur Brücke. Der Aufzug befindet sich nahe des vorderen zur Messe auf der anderen Seite des Flurs. Der Captain hatte seinerzeit aufgrund der Lärmbelästigung sein Quartier mit dem gegenüber liegenden des 1. Offiziers getauscht.
In der zweiten Inspektion wurde der Lift gegen eine Antigravplattform ausgetauscht…“ Brin grinste. Seine Miene gefror jedoch als ihm klar wurde, dass er den Großteil der Informationen gar nicht haben konnte. Er wusste Dinge. Ja, er wusste.
„Lana, ich kann Ihnen wirklich nicht erklären…“ begann er, sah jedoch in ein zufrieden lächelndes Gesicht. Der totale Kontrast zur Bestürzung, die sie noch vor wenigen Minuten gezeigt hatte. Sie kreiste mit der Hand, um ihn zum Weiterreden zu bewegen.
„Die Brücke misst etwa acht Meter in der Breite und fast zwölf Meter in der Länge. Sie wurde nach dem Beispiel vieler Science Fiction Filme eingerichtet. Der Platz des Kapitäns befindet sich im vorderen Drittel mittig. Zu seiner Linken befindet sich der Platz des Navigators, zu seiner Rechten der des Kommunikationsoffiziers. Die Wissenschaftliche Station befindet sich hinten links, der des Waffenoffiziers hinten rechts. Hinter ihm befindet sich eine Nische. Diese kann ausschließlich durch den Waffenoffizier geöffnet werden. Ich komme gerade nicht dahinter, wie dies geschieht. In dieser Nische befindet sich der Neurotransmitter in Form eines Stuhls zur Steuerung der Waffensysteme.“ Er sah Lana Geser an. „Zufrieden?“
Zu seiner Überraschung zeigte sie keine. Sie nickte nur und wies mit dem Arm zum Lift. Er erwies sich als relativ eng für zwei Personen. Sie standen einander gegenüber, sahen sich in die Augen. Lana war nur wenig kleiner, als er. Lana Geser war eine durchaus beeindruckende Frau. Und begehrenswert. Sie trat als erste aus dem Aufzug, wandte sich direkt nach Links und öffnete die Nische zur Antigravplattform. Sie schwebten in der Röhre so schnell nach oben, dass Brin sich keine Gedanken um seine Gefühle machen musste, die er womöglich zu hegen begann. Er schob es schlicht auf seine, nun schon relativ lange andauernde Enthaltsamkeit.
Ihnen kamen ein Mann und eine Frau entgegen.
„Captain, darf ich vorstellen, Chief Zack, Zack, das ist Captain Stenyard.“ Zack deutete eine leichte Verbeugung an, als er Brin die Hand reichte.
„Und dies ist Dr. Sinar unser Wissenschaftsoffizier.“ Brin nahm die ihm im Zuge der Begrüßung angebotene Hand und hielt sie genüsslich fest.
„Von den Skolari.“ fuhr Lana Geser fort.
Wäre nicht der sehr starre und fast gelangweilte Ausdruck gewesen, hätte man diese Frau glatt für attraktiv halten können. Er blickte auf die in seiner liegende Hand, die Dr. Sinar offenbar gar nicht zurück haben wollte. Wohlige Wärme stieg durch seinen Arm, breitete sich über die Schultern in seinem ganzen Körper aus.
“Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, Doktor, aber sind sie wirklich eine Skolari“ Brin stockte.
Offenbar konnte sie doch lächeln. „Ja, Captain, das bin ich.“
„Fein,“ sagte Lana, „dann haben wir ja alles Nötige geklärt. Ich lasse Ihnen Captain Stenyard hier. Erklären Sie ihm, was erklärt werden muss oder lassen Sie es sich von ihm erklären. Ganz nach Belieben.“ Sie genoss das erstaunte Gesicht Zacks sowie die angedeutete Überraschung der sehr kontrollierten Dr. Sinar und verließ die Brücke mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen.

Eine neue Welt 7

„Captain Stenyard,“ sagte Zack, „darf ich fragen, was Frau Konsul damit meinte, uns etwas von Ihnen erklären zu lassen? Kennen Sie dieses Schiff?“
Brin sah den Chief an und sagte: „Nun, ich dürfte es nicht kennen doch irgendein… sagen wir Schalter wurde bei mir umgelegt, als ich es betrat. Es sieht alles so aus, als würde ich die Thanatos kennen, ja. Mir sind alle Konsolen und deren Funktion geläufig und ich weiß nun auch, warum Sie einen Großteil der Systeme nicht starten konnten.“
Der Techniker sah ihn erstaunt an, sagte aber nichts. Offenbar wartete er, das Brin seine Ausführungen fortsetzte, was er daraufhin auch mit einem Seitenblick auf die ebenfalls interessiert blickende Dr. Sinar tat.
„Die Thanatos stammt, wie Sie sicherlich aus alten Überlieferungen wissen, von der Stammwelt der Menschheit, der Erde. Die Erbauer setzten einiges daran, Dritten eine Übernahme des Schiffes unmöglich zu machen. Das ist aus der Gliederung der Decks ebenso zu schließen, wie aus der Absicherung aller Schlüsselsysteme.
Ich gehe einmal davon aus, dass Sie einige davon durch explizite Energiezufuhr unter Umgehung der Konsolensteuerung in Betrieb nehmen konnten. Wie z.B. die Tarnvorrichtung…“
„Das ist korrekt, Captain.“, sagte Zack.
„Wenn ich mich recht erinnere…“ Wie unsinnig das klang, wo Brin das Schiff ja an sich nicht kennen konnte. Er schüttelte kurz den Kopf und setzte neu an. „Soweit ich zu wissen glaube, nutzten die Menschen eine Art genetischen Fingerabdruck, um die Konsolen den zuständigen Offizieren zugänglich zu machen. Ein Ansprechen der Konsolen war nur möglich, wenn man bestimmte, typisch menschliche Genstrukturen besaß. Durch den Wechsel der Galaxis und völlig neue Lebensumstände von der Ernährung über die gesamte Lebensweise unter veränderten, atmosphärischen Bedingungen dürfte diese spezielle Genkombination verloren gegangen sein. Ich deute es aber gern einmal zur Demonstration an.“
Stenyard trat an die Hauptsteuerkonsole des Kapitäns heran und suchte zuerst in seiner Erinnerung dann an der Konsole selbst eine kleine Mulde, in die man einen Finger legen konnte. Er fand sie am rechten Rand und drückte den Zeigefinger darauf.
„So in etwa würde das funk… au, beim Mars.“ Obwohl alle Instinkte in ihm rebellierten, beließ er den Finger an Ort und Stelle. Eine Nadel hatte sich in seine Fingerkuppe gebohrt und saugte gierig die abgegebenen Blutstropfen auf. Der Stich dauerte nur ein, zwei Sekunden. Dann zog sich die Nadel zurück und in der Mulde bildete sich etwas Wärme um seinen Finger. Der Konsole entrang sich ein kurzer Signalton. Ebenfalls ohne bewusstes Wissen, nahm er seinen Finger wieder herunter und drehte sich zu seinen Gesprächspartnern um.
„So etwa hat das damals funktioniert. Doch wie ich schon sagte, die Gene der heutigen Menschen sind schlicht und ergreifend nicht mehr kompatibel.“ sagte Brin.
Chief Zack und Dr. Sinar blickten jedoch an ihm vorbei und in Zacks Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Bewunderung und Entsetzen wieder, während der Wissenschaftsoffizier sich zumindest zu einer überraschten Miene herab ließ.
„Was ist?“ fragte Brin und folgte den Blicken. Die Hauptkonsole arbeitete. „Oh…“ sagte Brin nur.
„Captain Stenyard,“ fand Dr. Sinar als erste ihre Sprache wieder, „wir kannten die Mulde und wussten um deren Bedeutung. Allerdings ist es keinem Skolari und keinem Taradori bisher gelungen, sie zu einer Regung zu veranlassen.“
Stenyard blickte nun selbst überrascht, während Dr. Sinar fortfuhr.
„Mir ist bewusst, dass man Sie zu einem, wie soll ich sagen, zu einem Messias hoch stilisiert hat, der eine Prophezeiung zu erfüllen habe. Die Skolari haben dafür allerdings eine gänzlich andere Erklärung. Unsere Aufzeichnungen reichen um einiges weiter zurück, als die der anderen Fraktionen. Nun bin ich ganz sicher, dass Sie, Captain Stenyard, zwar unser Mann sind, Sie sich aber auch darüber im Klaren sein müssen, dass Sie ganz gewiss kein Angehöriger der Martian-Fraktion sind. Dies ist lediglich die Tarnung, die Ihr Orden für Sie gefunden hat.“
Dr. Sinar lächelte und kostete Brins Überraschung aus.
„Orden?“ sagte Brin. Er überlegte lange, fand aber in seiner ganzen Vita keinen Bezug zu einem Orden. Seine Eltern? Beim Mars, er kannte seine Eltern nicht. Brin war Ziehsohn einer martianischen Kriegersippe. Ein Findelkind.
Dr. Sinar fuhr fort: „Viele nennen diesen Orden auch seit Langem schon die ‚Vierte Fraktion‘.“
Bei diesen Worten regte sich etwas in Stenyards Hirn. Wieder wurde ein Schalter umgelegt und beleuchtete frische Informationen, die er auf keinem herkömmlichen Wege erlangt haben konnte. Die von Dr. Sinar erlangte Wärme bündelte sich in seinem Körper und stieg über den Nacken in seinen Kopf auf.
„Die ‚Vierte Fraktion’“, sagte Stenyard fast wie in Trance, „wir sind die ‚Homin‘, wir bewahren das Erbe der Menschheit, wir sind der Orden der Bewahrer. Unser Gedächtnis ist genetisch. Wir tragen den Code der Menschheit durch die Zeiten des Dunkels, des Lichts und der geheimen Welt dazwischen. Wir bewahren Wissen auf die einzige, mögliche Art und Weise, geschützt vor dem Zugriff Fremder. Unsere Kinder und Kindeskinder sind Bewahrer der einzigen Wahrheit. Sie halten das Wissen der untergegangenen Welt in ihren Händen, um es zum Nutzen der ganzen Menschheit einzusetzen. Unsere Wege sind verschlungen. Ohne uns herrscht das Chaos allein. Wir sind die ‚Homin‘. Die wahre Erkenntnis ist unser.“
Hätte Stenyard nicht gesessen, wäre er hinterrücks lang hingeschlagen. Die Schwäche überfiel ihn schlagartig. Dies war allerdings nichts im Vergleich zu den unbeschreiblichen Kopfschmerzen, die unmittelbar darauf einsetzten. Sein Gehirn wurde mit Informationen geflutet. Wissen das längst verloren geglaubt war. Kenntnisse über zwielichtige Aktionen aller Fraktionen, seit es sie gab. Aber, beim Mars, Wissen war niemals objektiv. Es war gefärbt von Emotionen und persönlichen Erlebnissen. Wissen war niemals absolut.
Brin Stenyard kippte aus dem Stuhl, hielt seinen Schädel und wand sich am Boden, während Zack und Sinar sich neben ihn hockten und ihm zu helfen versuchten.
„Rufen Sie Dr. Quinto, Chief!“ sagte Sinar. „Er soll zur medizinischen Station kommen. Ich bringe Stenyard dorthin.“
Zack nickte und kontaktierte den Mediziner der Bodenstation.
„Das habe ich nicht gewollt. Wie sollte ich das ahnen? Bitte verzeihen Sie mir…“ flüsterte Dr. Sinar.

Als er zu sich kam, wedelte gerade ein Mann im weißen Kittel mit einer grellen Lampe vor seinen Augen herum.
„Oh, Sie sind wach, Mr. Stenyard, entschuldigen Sie…“ Dr. Quinto steckte die Taschenlampe in den Kittel und richtete sich auf.
Wäre sein Gegenüber nicht so braun gebrannt gewesen, hätte man ihn glatt für einen typischen Schiffsarzt halten können. Durchtrainierte, sportliche Figur mit maskulin breiten Schultern. Ein Surfer-Typ. Auf langen Flügen ging die Sonnenbräune für gewöhnlich verloren. Daher nahm er an, dass es sich bei dem Arzt wohl doch eher um eine Landratte handelte. Die Krankenstation befand sich allerdings ganz klar auf einem Schiff und die Inventarbezeichnungen an den medizinischen Geräten deuteten darauf hin, dass er sich noch immer an Bord der „Thanatos“ befand.
Doch irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Oder besser, der Arzt passte nicht ins Bild.
„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte er den seinen Gegenüber.
„Dr. Finn Quinto. Taradorische Fraktion. Bordarzt der Thanatos.“ sagte der und fuhr fort, „Und Sie sind Captain Brin Stenyard!?“
Nun das klang mehr nach einer Feststellung als einer Frage, also beließ es der Patient dabei. Den Namen kannte er zwar, hätte ihn aber nicht unbedingt auf sich bezogen. Es fühlte sich eher wie ein Schatten aus einem fremden Leben an.
„Sie haben einen mentalen Schock erlitten, als sich die genetisch gespeicherten Informationen in Ihr Gehirn quasi ergossen haben. Möglicherweise sehen Sie derzeit dieses Schiff noch als ein ehemaliges Crewmitglied. Das können wir nicht ausschließen. Daran sind die Rahmenbedingungen hier schuld. Es wird einige Tage dauern, bis Sie die Informationen vollständig auseinander zu halten vermögen. Sprich Ihre Erinnerungen und die gespeicherten Daten.“ sagte Dr. Quinto.
„Keine Sorge, Doktor Quinto, ich werde Sie nicht anschnauzen und aus der Krankenstation meines Schiffes verjagen. Es klingt zwar alles völlig hirnverbrannt, was Sie mir da gerade erzählen aber noch verrückter ist, dass ich weiß, wann und wo ich starb, wer mein Nachfolger wurde und was er mit diesem Schiff getrieben hat. Können Sie mir sagen, welches Jahr wir haben, Doktor?“
„Ich bedauere, Mr. Stenyard, wir berechnen die Zeit seit vielen Generationen in Sternzeit. Die Uhr nach einer Welt zu bemessen, die unendlich weit entfernt ist, hat sich schlicht nicht bewährt.“ Der Arzt lächelte.
„Ah, ja, schade…“
„Mr. Stenyard, ich werde Sie nun eine Weile allein lassen. Ein leichtes Beruhigungsmittel sollte Ihre geistigen Funktionen kaum beeinträchtigen, wird Ihnen aber etwas Schlaf gönnen. Sie brauchen ein paar Tage, wie ich schon sagte.“
„Würden Sie bitte die Arm- und Beinschlingen entfernen, Doktor. Das fühlt sich definitiv falsch an.“
„Sehr gern, aber bitte, schlafen Sie.“
„Ja, das werde ich.“ Der Patient fiel langsam zurück in eine beruhigende Schwärze. Er schlief traumlos.
Lana Geser trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte. Die Assistentin von Rat Larson, dem taradorischen Gouverneur Shingans, hatte sie in den kleinen Besprechungsraum geführt. Hier wartete sie nun schon eine geschlagene halbe Stunde auf das Erscheinen des Potentaten. In der Spiegelwand öffnete sich eine Tür, die sie bis dahin nicht als solche wahrgenommen hatte und Larson trat ein.
„Entschuldigen Sie, Konsul Geser, dass ich Sie habe warten lassen. Regierungsgeschäfte…“ sagte er.
Lana Geser erhob sich.
„Rat Larson, sie haben mich in der Sache Stenyard auflaufen lassen.“ sagte sie wütend. „Lassen mich von einer Prophezeiung schwafeln, wie ein Schulmädchen. Warum haben Sie mich nicht eingeweiht? War ich Ihnen nicht die Wahrheit wert?“
„Beruhigen Sie sich, Konsul.“ sagte Larson gelassen. „Wir waren uns seiner nicht sicher. Nur Dr. Sinar war in ihrer Rolle als uns bekanntes Mitglied des Ordens in der Lage, die Umstände zu deuten und die Erinnerungen Stenyards zu wecken. Uns war nicht klar, dass bereits das Schiff als solches unterbewusste Reaktionen seinerseits bewirken könnte. Außerdem war nicht vorhersehbar, dass wir es mit einem Großmeister zu tun haben würden. Nicht einmal Sinar hat das bemerkt, bevor sie die Rekonvaleszenz auslöste.“
„Einem Großmeister?“ Lana Geser nahm wieder Platz. Sie wurde von den Ereignissen wohl doch überrollt.
„Die Großmeister des Ordens werden nicht gewählt. Sie erben ihr Wissen. Stenyards Mutter war Großmeisterin Astarte. Sie und ihr Mann wurden jedoch Opfer eines martianischen Angriffs auf das Flaggschiff des Ordens. Als die Niederlage unausweichlich schien, haben sie ihren Sohn im Alter von nur drei Jahren initiiert. Sie wussten, dass die martianische Ehre die Tötung eines Kindes verbot. Die Angreifer wussten jedoch entweder nicht, wessen Schiff sie kaperten oder sie kannten den Orden oder dessen Bedeutung nicht. Stenyard wurde unter neuem Namen im Sinne der Martian-Fraktion erzogen und entzog sich damit unserer Aufklärung.“
„Und was bedeutet das für uns und die Mission?“
„Ich habe keine Ahnung, Lana. Wir müssen abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Allerdings ist sicher, dass es Stenyard als Person nicht mehr geben wird. Großmeister tragen für gewöhnlich einen Spitznamen oder Codenamen oder Großmeisternamen, wie man es auch nennen will. Seinen kennen wir nicht. Der Orden aber kennt ihn. Momentan können wir nur hoffen, dass es im Sinne des Ordens ist, unsere Mission zu unterstützen.“
„Wann werden wir das wissen, Rat Larson?“
„Die leider etwas ungeschickt ausgelöste Rekonvaleszenz dauert etwa zwei Tage an. Danach benötigt Stenyard einige Tage Übung und Anleitung durch Dr. Sinar, um seine Vita vom ererbten Wissen trennen zu können. Nach den Informationen von Dr. Sinar rechne ich damit, dass er morgen im Laufe des Nachmittags wieder ansprechbar sein wird.
Ich möchte Sie bitten, Lana, sich dann an seinem Krankenbett einzufinden und die Lage zu sondieren. Dr. Sinar bleibt die ganze Zeit in seiner Nähe. Sie hat bereits mit den Reinigungsprozeduren begonnen. Ordenskram. Da habe auch ich keine Ahnung von.“ Larson lächelte.
Lana legte das Gesicht in die Hände, um sich und ihre Gedanken zu sammeln.
„Konnte ich Ihre Fragen beantworten, Lana?“ sagte der Rat.
Sie blickte auf und nickte. Als sich Larson wieder der Tür zuwandte, rief sie ihm nach: „Eins noch, Rat Larson, wer von der ausgewählten Crew gehört noch dazu? Zum Orden?“
Der Rat blickte nur kurz über die Schulter und sagte: „Ich weiß nur von Stenyard und Sinar. Allerdings wird Stenyard sich wahrscheinlich ein, zwei weitere Ordensmitglieder in die Crew holen, was für die Funktion des Schiffes und die Mission unerlässlich ist.“
„Welche Funktion habe ich dann in dieser Mission?“ hakte Geser nach.
Rat Larson drehte sich erneut zu ihr um, kam auf den Tisch zu und stemmte beide Arme auf eine Stuhllehne. Ohne einen Anflug von Heiterkeit in Stimme und Mimik sagte er: „Falls Sie den ‚Homin‘ keinen weiteren Großmeister beschaffen wollen, sind Sie lediglich Beobachter.“
Lana Geser erstarrte. Dies war eine unglaubliche Unverfrorenheit, die sich Rat Larson hier gerade geleistet hatte. Zorn kochte in ihr hoch.Rat Larson hob seine Hände, als ob er sich so vor ihrer Wut schützen könnte, drehte sich wortlos um und verließ den Raum.
„Ich bin doch keine…“ Lanas Wut brach sich Bahn. Zumindest war ihre Teilnahme an der Mission gesichert. Den Großmeister konnte sich dieser aufgeblasene Larson sonst wohin schieben.
Sie entschloss sich, ihrem Schützling in der Krankenstation der „Thanatos“ noch einen Besuch abzustatten, bevor sie sich in ihr kleines Single-Appartement zurückziehen würde.

Eine neue Welt 8

Als er zu sich kam, musste er sich erst einmal orientieren. In seinem Kopf herrschte noch immer ein heftiges Chaos von Erinnerungen, die nicht die seinen waren. Doch die maßgebliche Erinnerung rückte vieles ins rechte Licht. Er hatte Mutter und Vater, die ihr Leben für ihre Aufgabe, ihre Ãœberzeugung gegeben haben. Warum verspürte er keine Rachegefühle gegenüber ihren Mördern. Er war unter ihnen aufgewachsen, hatte den Ehrenkodex von klein auf kennen und schätzen gelernt. Nein, Rache war entweder seinem Naturell fremd oder es geziemte sich nicht für einen Bewahrer des Wissens der Menschheit. Geziemte sich nicht für ein Mitglied des Ordens. Wieder rauschten seine Gedanken. Einem hohen Mitglied des Ordens.Nein, auch das stimmte nicht ganz. Er hörte förmlich die Stimme seiner Mutter, die ihn zurecht wies. ‚Nein, Lionas, Du bist Großmeister des Ordens, ein Oberhaupt der Vierten Fraktion.‘
Lionas. Das klang vertraut. Das war sein Name. Lionas… und wie weiter? Wie lautete sein Familienname? Wieder summte es in seinem Hirn. Großmeister trugen keine Familiennamen. Unantastbarkeit erlangte man nur, wenn man sich nicht familiär band. Der Orden flog seit Jahrhunderten unterhalb des Radars der bekannten Fraktionen. Anders wäre die hohe Aufgabe nicht zu erfüllen.
Langsam setzte er sich auf der Liege auf. Es dauerte einige Augenblicke, bis sein Kreislauf die veränderte Position respektierte und sich das Blut überall verteilte. Wahrlich überall. Er musste völlig ungroßmeisterlich grinsen, als er seine unmotivierte Erregung bemerkte.
Er schwang sich von der Liege, klaubte seine Uniform von einem Hocker, legte sie über seinen rechten Arm und verließ die Krankenstation zielstrebig in Richtung der Offiziersmesse. Im Kapitänsquartier angekommen, warf er sie auf die Pritsche zog sich aus und ging unter die Dusche. Das kühle Wasser belebte seinen Körper. Nackt wie Gott ihn geschaffen hatte durchsuchte er die Schränke, fand jedoch nichts. Die Kleidung hatte offenbar dem Zahn der Zeit nicht widerstanden. Mit leicht angewidertem Blick streifte er seine Unterwäsche wieder über und zog seine Uniform an. Er würde sich seine Kleidung von der „Minerva“ bringen lassen. Sie selbst zu holen, wagte er nicht. Es war nicht ausgeschlossen, dass man ihm auf Shingan noch immer nicht traute. Lionas würde den Doktor oder Konsul Geser bitten, sich darum zu kümmern.
Wo waren eigentlich alle geblieben?

Auf dem Flur vor der Krankenstation traf er auf die überraschte Lana Geser.
„Sie sind schon auf, Captain?“
„Ja, Lana, danke der Nachfrage, es geht mir gut. Seien Sie bitte so gut und nennen Sie mich Lionas. Es braucht keine Titel.“
„Lionas.“ sagte Geser mehr zu sich als zu ihm. „Verstehe. Falls ich aber auf einem Titel bestehen müsste, welcher wäre das dann? Großmeister?“
„Admiral, Lana. Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten?“
Konsul Geser war überrascht, dass sich Lionas eines so hohen Amtes bemächtigte, ließ ihn aber gewähren, da sie es auf seinen Geisteszustand schob. „Ja, ich helfe gern, wenn ich kann.“
„Ich benötige meine Sachen von der ‚Minerva‘, den Schiff Stenyards.“ sagte Lionas.
„Ja, selbstverständlich, ich kümmere mich direkt darum.“ sagte Lana, der es noch immer eigenartig vorkam, dass ihr Gegenüber in der dritten Person von sich sprach.
„Ach, Lana!“
„Ja?“
„Vielleicht bringen Sie gleich die ‚Minerva‘ in den Hangar, dann muss ich Sie nicht wegen jeder Kleinigkeit belästigen.“
Nun hatte sie ihn. „Die Thanatos besitzt keinen Hangar.“
„Lana, bitte tun Sie es einfach.“ Lionas lächelte.
Während Konsul Geser in ihren Kommunikator sprach, deutete Lionas kurz auf sich und dann nach oben, um ihr zu verdeutlichen, dass er die Brücke aufsuchen würde. Sie nickte kurz.

Die Konsole war noch offline. Er wappnete sich vor dem Stich, der aber ausblieb. Stattdessen wurde sie von Energie durchflutet, als er seine Hände auf sie legte. Er schmunzelte. Ein paar Handgriffe und das Jammern der Hydraulik bestätigte ihm, dass sich das Start- und Landesystem ausfuhr.
Mit einem Schiff der Zerberusklasse musste man schon sehr geschickt manövrieren, um es ohne Schrammen und Beschädigung des Landesystems herein zu bringen doch das traute er sich wohl zu.
Konsul Geser stürzte auf die Brücke. „Was geht hier vor? Bitte veranlassen Sie nichts, was unsere Tarnung auffliegen lässt!“
„Keine Sorge, Lana, ich habe lediglich den fehlenden Hangar geöffnet.“ Irgendwie fühlte es sich gut und richtig an, den Taradori ein wenig auf der Nase herum zu tanzen. Das irritierte Gesicht Lanas tat ein Übriges für seine heitere Stimmung.
„Seien Sie bitte so nett, Konsul, und sagen Sie mir Bescheid, wenn mein Schiff im Dock ist? Einparken werde ich es selbst. Ein Zerberus ist doch schon reichlich groß. Soweit ich sehen kann, haben wir Backbord genug Platz. Auf der Steuerbordseite stecken noch zwei kleinere Schiffe. Denen werde ich mich in den nächsten Tagen widmen können.“
„Oh, Sie nehmen also unser Angebot an?“ fragte Geser.
„Liebste Lana, ich, Lionas, Admiral der Hominschen Flotte, nehme unser Schiff wieder in Besitz. Meine Dankbarkeit für Ihr Entgegenkommen bedarf keiner, weiterer Leistungen von Ihrer Seite. Ich spreche Ihnen meinen Dank aus.“
„Admiral …, Lionas, …ich kann, ich darf Ihnen das Schiff nicht überlassen. Wir benötigen es für unsere Mission…“
„Lana, ich möchte Ihnen und den Taradori nicht zu nahe treten, doch Sie haben weder die Fähigkeiten noch die Kompetenzen, dieses Schiff einer vermeintlichen Mission entsprechend zu betreiben.“
Konsul Geser fühlte sich in die Ecke gedrängt, musste etwas unternehmen. Die Zügel drohten ihr zu entgleiten. „Wir aber wissen, wo die ‚Erebos‘ und die ‚Phoibos‘ stecken. Und das finden Sie nicht im Logbuch dieses Schiffes.“
„Was bringt Sie zu dieser Annahme?“ sagte Lionas ruhig.
„Die ‚Thanatos‘ ist über Jahrhunderte in freien Raum getrieben. Nach unserem Wissen gelangte sie nur durch Zufall in diese Galaxis.“
„Aha.“
„Wir gehen davon aus, dass sie auf ein Wurmloch zusteuerte. Vermutlich wurden alle Systeme deaktiviert, um jenes beim Durchtritt nicht zu destabilisieren. Wir wissen nicht, warum die Crew der Ansicht war, dass dies nötig sei, bevor sie alle starben…“
„Konsul Geser, warum erzählen Sie mir das? Was bringt Sie zu der Annahme, dass mich dies interessiert.“
„Das Wurmloch ist noch da. Nach all den Jahren noch immer stabil. Die Thanatos trieb diesseits des Ereignishorizonts und wir, die Taradori wissen, wo dieses Wurmloch zu finden ist. Aber die Zeit drängt. Das ist unsere Mission.“
Lionas sah den Konsul ruhig an und rieb sich das Kinn. Bartstoppeln knirschten. Brin Stenyard hatte diesen Körper wirklich arg vernachlässigt. Das würde ein Ende haben. Sollten die Taradori vorhaben, was immer sie wollten. Er hatte ein Fitnessprogramm zu bewältigen.
„Liebste Lana, zuerst hätte ich gern die ‚Minerva‘ im Hangar, möchte mich frisch machen, neu einkleiden und ein paar Kilometer auf dem Laufband herunter reißen. Sollten Sie also im Moment keine Anliegen der ‚Vierten Fraktion‘ zu erörtern haben, wäre ich Ihnen sehr verbunden, meine Angelegenheiten geklärt zu wissen.“
„Lionas, bitte, das Schiff…“
„Lana, die Thanatos ist Eigentum der Homin, der Vierten Fraktion. Sie beherbergt hervorragende Systeme und Technologien aber ich werde sie ganz gewiss nicht alleine fliegen können. Die Thanatos benötigt eine Mannschaft. Sollten Sie sich also Sorgen machen, ich könnte heimlich mit dem Schiff verschwinden, dann dürfen Sie diese getrost über Bord werfen. Ich habe jetzt eine Verabredung mit meinem Personal Trainer. Wir sehen uns.“ Lionas deutete eine Verbeugung an und verließ die Brücke über die Treppe.
Als Lana Geser von der Offiziersmesse in den Flur trat, hörte sie aus einem der benachbarten Räume wüste Beschimpfung, die eher an einen Drill-Sergeant als an einen Personal Trainer erinnerten. Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und erblickte einen Muskelprotz, der Lionas sinnbildlich in „seinen schlaffen, faltigen Arsch“ trat. Der Admiral schaffte sich laut lachend auf dem Laufband. Lana kannte den Mann nicht und sie kannte definitiv alle, die die Sicherheitsfreigabe für dieses Schiff besaßen. So musste es sich wohl oder übel um ein Hologramm handeln. Einmal mehr beeindruckt von der in Vergessenheit geratenen Technologie zog sie die Tür heran und machte sich auf den Weg, Rat Larson ihre Freizügigkeit in der Preisgabe geheimer Informationen zu beichten.

Eine neue Welt 9

Lionas lag frisch geduscht und eingekleidet auf der Pritsche des Kapitänsquartiers.
Seit Tagen hielt er Zwiesprache mit dem Bordcomputer und versuchte, die letzten Monate der „Mission Supervivo“ nachzuvollziehen. Was hatte ausgerechnet diese Mission scheitern lassen, wo doch zahlreiche andere Erfolg hatten?
Der letzte Logbucheintrag stammte vom Freitag, dem 15. Juni 2362 irdischer Zeitrechnung.
Während die „Phoibos“ der „Thanatos“ bis zum Ausfall ihrer Energiesysteme gefolgt war und regelmäßig Standortkoordinaten übermittelt hatte, lag das Schicksal der „Erebos“ im Dunkeln. Er schmunzelte bei diesem gedanklichen Wortspiel. Die Wege der Schiffe hatten sich bereits drei Jahre zuvor getrennt. Der Funkkontakt hielt noch ein knappes, halbes Jahr, dann gab es keine Lebenszeichen der „Erebos“ mehr in den Aufzeichnungen. Die letzte bekannte Position der schönen Dunklen lag in einem Spiralarm der Milchstraße, fast diametral gegenüber des Arms, in dem sich die Erde befand.
Tausende, synchronisierte Logbucheinträge der drei Schiffe galt es auf der Suche nach dem Schicksal des Terzetts zu durchforsten.

Eines war allerdings sicher. Konsul Geser hatte zu dick aufgetragen, als sie behauptete, die Standorte der beiden anderen Schiffe zu kennen. Sie konnte bestenfalls annehmen, dass sich die „Phoibos“ auf der anderen Seite des Wurmlochs bzw. in einer vorherberechenbaren Linie davon befand, falls sie nicht einfach stur am Wurmloch vorbei getrieben war. Mit der Kenntnis vom Verbleib der „Erebos“ konnte auch Geser sicher nicht aufwarten.
Noch eines wurde ihm bewusst, je mehr Erinnerungen sein Unterbewusstsein ihm zugänglich machte.
Drahtzieher hinter dem „Thanatos“-Projekt und der damit verbundenen, taradorischen Mission waren ganz sicher weder Lana Geser noch Rat Larson. Hier hatte jemand anderes seine Hand im Spiel und er ahnte nun auch, wer dies sei.
„Computer!“
„Ich erwarte Ihre Eingabe, Sir!“ kam die militärisch korrekte Antwort mit männlicher Stimme zurück, der er in den letzten Tagen schon so lange gelauscht hatte.
„Kommunikation Konsul Lana Geser.“ Sagte Lionas. Er war insgeheim gespannt, welche Möglichkeiten sich der Computer zu Nutze machen würde, um diese Aufgabe zu erfüllen.
Kurze Zeit später drang die angenehm weiche Stimme des Konsuls aus dem Lautsprecher, wenngleich sie etwas verschlafen klang.
„Habe ich Sie geweckt, Lana? Ich verliere leider etwas die Kontrolle über meine innere Uhr.“ Sagte Lionas.
„Ja, Lionas, Sie haben mich geweckt, es ist mitten in der Nacht.“ Das letzte Wort verbarg sich hinter einem geräuschvollen Gähnen. „Ist es sehr wichtig oder hat es Zeit bis morgen früh?“
„Vermutlich hat es Zeit. Ich wollte nur wissen, wer die Suche nach der ‚Thanatos‘ veranlasst hatte.“
„Es gab keine Suche. Die Crew des Forschungsschiffes entdeckte sie zufällig in der Nähe des Wurmloches, das das eigentliche Expeditionsziel darstellte. Da kann Ihnen Dr. Sinar sicherlich einiges dazu sagen. Sie war leitender Wissenschaftsoffizier der Mission.“
„Dr. Sinar, eine Homin.“ Sagte Lionas mehr zu sich als zu seiner Gesprächspartnerin.
„Ja, den Missionsauftrag hat seinerzeit Thor Valig abgezeichnet. Er hielt es für unabdingbar, ausgerechnet dieses Wurmloch zu studieren. Mehr weiß ich leider auch nicht darüber. Ich wurde erst in der Folgezeit in die Planung unserer Mission einbezogen.“
„Durch wen?“ hakte Lionas nach.
„Rat Larson.“ Sagte Lana.
Nun, das mochte aus Ihrer Sicht stimmen. Doch Lionas war sich sicher, dass auch Rat Larson nur ein Befehlsempfänger war. Aber er hatte einen Namen, der ihm als Bestätigung mehr als ausreichend erschien. Thor Valig, Vizepräsident der Taradorischen Fraktion.
„Danke, Konsul, sie haben mir mehr geholfen, als Sie ahnen. Schlafen Sie gut.“ Sagte Lionas schnell.
„Gute Nacht, Lionas.“ Sagte Geser und unterbrach die Verbindung.
„Computer! Aufenthaltsort und Ortszeit von Thor Valig ermitteln. Ausführen!“ sagte er.
„Thor Valig, Vizepräsident der taradorischen Fraktion befindet sich laut Angaben der Singanischen Personaldatei derzeit in seinem Hauptwohnsitz auf Arras, Stammsitz der taradorischen Fraktion. Angabe einer Ortszeit mit meinen Methoden der Zeitmessung nicht kompatibel. Tag.“
„Computer! Verbindungsaufbau Thor Valig! Ausführen!“
Er wartete und lächelte. Während sich der Computer durch anscheinend nahezu ungeschützte Datenbanken hackte und die private Kommunikation zu einem hohen Regierungsmitglied aufbaute, das nicht ahnen konnte, was gleich auf es zukam.
„Valig hier, wer spricht da?“
„Mein lieber Thor, hier spricht Lionas.“
„Ich kann gerade nicht sprechen, ich befinde mich in einer Unterredung des taradorischen Rates.“
„Mein Computer hat Dich einmal gefunden, er wird Dich immer wieder finden. Wenn ich mich das nächste Mal melde, spreche ich mit Meister Thorvald. Lionas benötigt seine Mitwirkung.“
„Verstehe, Valig Ende.“ Sagte der Vizepräsident.
„Gesicherte Leitung abgebaut.“ Sagte der Computer.
Lionas lachte kurz auf. Offenbar las ‚Thanatos‘ wohl Gedanken.
„Computer. Standby.“
„Befehl wird ausgeführt.“

Nun herrschte wieder Ruhe. Aufzeichnungen seiner möglichen Selbstgespräche würde es nicht geben. Er sprach immer wieder laut während seiner inneren Sammlung. Während er Ordnung und Chronologie in das Chaos seiner Geschichte brachte.
Er versetzte sich in eine leichte Trance und ging schrittweise zurück. Das Leben Brin Stenyards verlief in geregelten Bahnen, die seiner martianischen Erziehung geschuldet waren.
Mit drei Jahren erhielt Lionas von seiner Mutter die Einprägung als Großmeister, die sie daraufhin extrem geschickt verdeckte. Kinder haben im frühen Status ihres Lebens noch keinen Bezug zu Geheimnissen, teilen sie nur zu gern mit wohlwollenden Menschen in ihrem Umfeld. Eine Tarngeschichte war jedoch nicht nötig, da Lionas sich ohnehin nicht würde an seine frühe Kindheit erinnern können.
Obwohl das Wissen genetisch geprägt ist, bedarf es einer Einprägung oder Initiierung durch einen Meister oder Großmeister, um im späteren Leben auf diese ererbten Erinnerungen Zugriff erhalten zu können. Meist geschah diese im bewussten Alter von zehn bis vierzehn Jahren, bedurfte einer Tarngeschichte und in manchen Fällen auch einer Überdeckung. Das hieß schlicht und ergreifend, dass man das bis dahin erlernte und erfahrene in einen entfernten Winkel des Unterbewusstseins verbannte, von wo aus es langsam in den genetischen Code einsickerte, während im Vordergrund ein gänzlich anderes Leben ablief, das für gewöhnlich nichts mit dem Dasein eines „Homin“ gemein hatte.
Im Normalfalle würde die Rückerinnerung ebenfalls durch einen Meister oder Großmeister veranlasst, damit sie in geregelten Bahnen verlief. Der Begriff „Rekonvaleszenz“ war für jene Wiederherstellung geschickt gewählt. Nichts deutete daran auf das Hervorholen von Erinnerungen oder Informationen hin. Das wäre zu vielen Menschen in dieser Galaxis eine zu große Verlockung.
Bekennende, sich erinnernde „Homin“ hatten in ihrem Umfeld nur noch selten Vertraute einer der bekannten Fraktionen. Zu groß war deren Neugier auf die alten Geheimnisse, die sich in dem viele hundert Jahre alten, ererbten Wissen finden mochten. Meist ergab sich damit ein Rückzug auf ein Eremitendasein. Einsamkeit.
Lionas wusste daher, dass viele nur allzu gerne seinem Ruf auf die „Thanatos“ folgen würden, die eine Lösung für all ihre Probleme zu bieten schien. Einen Ausweg. Eine Fluchtmöglichkeit.
Er machte Dr. Sinar keinen Vorwurf bezüglich Ihres ungeschickten Vorgehens. Sie hatte lediglich die Aufgabe erhalten, ihn auf seine Zugehörigkeit zur „Vierten Fraktion“ hin zu sondieren. Sinar hatte keine Ahnung, dass die Rekonvaleszenz bei ihm bereits selbständig eingesetzt hatte, wodurch sie versehentlich die letzten Mauern zu seinem genetischen Gedächtnis nieder riss.

Eine neue Welt 10

Lionas konzentrierte sich wieder intensiver. Das Leben Brin Stenyards. Eingeprägt in seine Gene. Bewahrt falls er sich entschloss, es an einen Nachkommen weiterzugeben.
Die letzten Jahre hatte er sich bereits auf den Status eines Sonderlings und Einzelgängers zurück gezogen. Arbeite gerne allein und vollkommen ohne Mannschaft. Dies bedeutete jedoch auch, dass er selbst sich auf Schiffskampf spezialisieren musste. Zum Plündern fehlte ihm die Crew. Beute nur mit Meute. Ein alter martianischer Trinkspruch. Lionas schmunzelte.
Er hatte seine bei den „Martian“ erlangten Kenntnisse der Taktik und des Kampfes meistbietend verkauft. Loyalität war seit Langem kein großes Thema bei den „Martian“ mehr. Sehr wohl aber Kriegerehre. Man fand sich für ein Projekt zusammen, zog es durch und wurde dafür bezahlt. Dann verschwand man einige Tage von der Bildfläche, bis sich die Wogen wieder geglättet hatten.
Die Unterstellungen der „Taradori“, man hätte sich auf deren Welten eingeschossen, stimmte in dieser pauschalen Form nicht. Es war nichts Ehrenvolles daran, einem Unbewaffneten den Schädel einzuschlagen. Sicherlich brauchte man hin und wieder die von ihnen gehorteten Ressourcen oder Bauteile. Brin Stenyard war stets bereit, einen fairen Preis zu zahlen, statt sich in einen Kampf ohne Ehre zu stürzen. Doch die verbohrten „Taradori“ ließen keine „Martian“ in ihre Nähe. An Handel war nicht zu denken. Und dies trotz deren angeblicher Ausrichtung auf genau dieses Fachgebiet. Den Handel.
Nein, sie drohten einem bekennenden „Martian“ noch mit dessen Vernichtung, falls er sich erdreistete, auf einer ihrer Welten zu landen. Das klang nicht sonderlich pazifistisch. Wirklich nicht. Kämpfte man sich dann in Begleitung einiger Waffengefährten auf eine solche Welt durch und besetzte Regierungsgebäude während der Plünderung einiger Betriebe, wurde man natürlich zum Staatsfeind Nummer 1 hoch stilisiert. Doch freiwillig gaben die „Taradori“ einem „Martian“ nichts her. Für kein Geld dieser jämmerlichen Welt.
Wundert es da, dass martianische Schiffskapitäne es sich zur Gewohnheit gemacht haben, die Identität ihrer Schiffe zu verschleiern, gefälschte Grußsignale zu senden, die Signaturen taradorischer Schiffe beinhalteten? Diente dies nicht genau genommen dem Schutz von Menschenleben auf beiden Seiten? Wollten die „Taradori“ nicht schlicht und ergreifend beschissen werden?

Ging es jenen aber an die Substanz, zeigten sie plötzlich Gesprächsbereitschaft. Einige „Martian“ verdingten sich als Söldner in taradorischen Kooperationen. Lebten von den Almosen, die ihnen die „Taradori“ zufallen ließen. Freibriefe gab es nur für „Martian“, denen man vertraute. Also denen, die ihre Überzeugung und Ehre über Bord geworfen und zu Verrätern an der martianischen Sache geworden waren.
Und man hatte Brin Stenyard einen solchen Verrat zugetraut? Man glaubte, ihn mit solch unehrenhaften Mitteln ködern zu können? Bei den „Taradori“ drehte sich alles ausschließlich ums Geld. Lionas Mundwinkel zog es unwillkürlich nach unten.

Betrachtete man hingegen die „Skolari“ sah die Sachlage ganz anders aus. Sie waren selbstgerecht und allesamt egoistisch. Vielleicht waren sie sogar die schlimmeren „Taradori“. Sie machten Geschäfte mit allen Seiten. Ihnen ging es um die Gewinnmaximierung ihrer Forschungsergebnisse. Leider produzierten sie selbst im Vergleich zu den taradorischen Partnern nur verhältnismäßig kleine Mengen ihrer eigenen Erfindungen. Viele „Skolari“ kooperierten mit taradorischen Unternehmen, da dort sowohl die Produktionskapazitäten als auch das Potenzial bezüglich der verfügbaren Ressourcen existierte.
Ein „Martian“ konnte jederzeit Eigenproduktionen der „Skolari“ erwerben. Kämpfe um skolarische Betriebe hielten sich in engem Rahmen, da es dort zwar mitunter Blaupausen zu stehlen gab, diese aber meist nur durch hohe Verluste in den eigenen Reihen erlangt werden konnten. „Skolari“ waren für gewöhnlich bis an die Zähne bewaffnet und besaßen extrem effektive Schildtechnologien, an denen sich ein „Martian“ stundenlang die Zähne ausbeißen konnte. Der technologische Vorsprung war stets unverkennbar.
Brin Stenyard hatte in seiner gesamten Laufbahn nur ein einziges Mal mit einer skolarischen Verteidigungsbastion zu tun gehabt. Ltd. Colonel Nix hatte eine Flotte von acht Schiffen der Leviathan-Klasse mit jeweils mindestens drei schweren Bombern der Zerberus-Klasse an Bord befehligt. Von den zahllosen leichten und schweren Jägern einmal abgesehen. In den vier Stunden des Dauerbeschusses hatte der Inhaber der skolarischen Forschungsstation in aller Ruhe mit Nix verhandelt und ihn letztlich zum Abbruch des Angriffes bewegt. Im Gegenzug erhielten die Angreifer Lizenzen für den Maschinenbau und mehrere Blaupausen, die eine eigene Forschungsreihe erlaubten.

Ja, auch die „Martian“ besaßen fähige Köpfe. Da die Mitarbeit in einem Labor aber nur bedingt zur Erlangung von Kriegerehre und Anerkennung führte, war es relativ schwierig, in dieser Fraktion auf engagierte Wissenschaftler zu stoßen. Sehr wenige „Skolari“ waren bereit, sich in einer martianisch dominierten Kooperation einzubringen. Es war schlicht nicht gewinnträchtig genug. Und die Forschung zugegebenermaßen auch sehr einseitig.
Kriegsschiffe, Kriegsgerät und Verteidigungssysteme.
Produktion und Ressourcengewinnung brachten erst recht keine Genugtuung, keine Ehre, derer ein Krieger bedurfte, wollte er in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen.
Holte man sich Ressourcen und Komponenten dort, wo es sie in Massen gab, musste man Gewalt anwenden, da die Besitzer nur selten einem Handel zustimmten. Dies war einem Freelancer noch eher vergönnt als dem Militär einer martianischen Allianz.
Eine verfahrene Situation, in die sich die Fraktionen vor vielen Jahrzehnten manövrierten.

Brin Stenyard hatte sich nach fast zehnjährigem Dienst in der Flotte der Stirgard-Allianz aus dem aktiven Dienst in die Selbständigkeit verabschiedet. Er hatte sich dem Meistbietenden als Söldner und Kopfgeldjäger verdingt. Für ihn spielten die Unterschiede der Fraktionen längst eine nur noch untergeordnete Rolle. Er besaß einen kleinen Betrieb, mehr eine Basis als eine Produktionsstätte. Gut befestigt und nahezu ohne Material, dass sich zu stehlen lohnte.
Sein Leben war ein ständiges Auf und Ab. Es gab magere und fette Zeiten. Als Kopfgeldjäger war er relativ erfolgreich. Doch die verhältnismäßig geringe Zahl an Aufträgen teilten sich viele Anwärter. Bei seinen Söldnerjobs hatte er stets darauf geachtet, nicht seiner eigenen Linie untreu zu werden. So war er nie zum Verräter an der martianischen Sache geworden, wenngleich er mehrere Male gegen seine Leute hatte antreten und zahlreiche Leben hatte nehmen müssen.
Er genoss eine gewisse Achtung sowohl der „Taradori“ als auch der „Skolari“, was ihm gestattete, auch die Vorzüge reicher und satter Welten zu genießen. Dies hatte ihn offenbar weicher und toleranter werden lassen. Er genoss sein Leben und erfreute sich sowohl an leiblichen als auch an geistigen Genüssen. Seine Mannschaft war jedoch zusehends geschrumpft, was ihm die Möglichkeit nahm, an größeren, militärischen Aktionen teilzunehmen. Vermisste er diese? Nein, eigentlich nicht. War er ein „echter Martian“? Lionas konnte diese Fragestellung ganz klar verneinen, denn er war ein waschechter „Homin“. So gesehen passte in seinem Werdegang alles. Er hatte überlebt und durfte sich getrost als wohlhabend bezeichnen. Auf gesellschaftliches Ansehen legte er keinen Wert. Seine Tarnung wäre mit jedem Aufstieg gefährdeter gewesen.
Nun war alles wahrhaftig, lag seine Bestimmung deutlich vor ihm.
Er würde die „Thanatos“ wieder ihrer Mission zuführen. Von Tag zu Tag wurde jedoch klarer, dass er keine Variation seines Planes fand, bei der er auf das großzügige Angebot der „Taradori“ und der „Skolari“ verzichten könnte. Man brauchte Proviant, technisches Equipment, Material zur Fortsetzung der Reparaturen und nicht zuletzt Personal, das sich möglicherweise dauerhaft von seiner derzeitigen Aufgabe lösen würde. Freibriefe würden eine große Zahl dieser Bedürfnisse abdecken, das Technologieangebot der „Skolari“ war für das Schiff von essentieller Bedeutung. Die vorhandenen Systeme arbeiteten zwar fast alle wieder normal, waren aber nur zum Teil mit den hier verfügbaren Mitteln zufriedenstellend zu betreiben. Seien es Energiegewinnung, Antrieb, Projektilwaffen oder Lebenserhaltungssysteme.
Entweder benötigte man eine größere Zahl neuer Generatoren, die auf die primitive Methode der Kernspaltung setzten oder aber Fusionsreaktoren, die man primär mit Wasserstoff füttern musste. Es sei denn, es wäre möglich, vier Standardpaletten raffinierten Niorans, also Niorynium aufzutreiben.
Er würde Dr. Sinar bitten, Augen und Ohren offen zu halten. Sie würde genügend über diese Stoffe wissen, um deren Verfügbarkeit prüfen zu lassen.
Beim Aufsetzen auf der Pritsche ächzte er wie ein alter Mann. Endlich sitzend entschloss sich Lionas spontan zu einer weiteren Runde im Fitnessraum des Schiffes. Müßiggang war eine Qual.