1.

Wem zu erraten vergönnt
die Zeichen
des großen Mysteriums
der Zeit
und wer dann nicht erkennt
den Blick
der aus dem Diesseits zu entweichen
droht
wie im Wahnsinn des Deliriums
fangen
Träume an, zu werden wie Unendlichkeit
um
Als Glück
Den Tod
Zu Verlangen


Es begab sich also in jener Zeit, als die Götter noch mit den Menschen verkehrten und täglich großartige Wunder vollbracht wurden, daß im Lande eine schreckliche Seuche ausbrach, die Mensch und Tier dahinraffte wiewohl sie gleichermaßen die Bäume und Tiere des Waldes nicht verschonte. Überall verbreitete sich große Verwirrung und Verzweiflung unter den Sterblichen aus. Da begab es sich, daß sich die Kunde von einem Mann in allen Gegenden verbreitete, der gekommen sei, die Welt aus dieser Verdammnis zu erlösen. Aber niemand wußte anzugeben, wo dieser Prophet zu finden sei, obwohl ihm schon viele begegnet und von ihm geheilt worden waren. Niemand sah die auf so wunderbare Weise Geretteten.
Nicht einmal die Götter wußten denjenigen, die sich noch nicht von ihnen abgewandt hatten, eine wahre Antwort auf deren brennende Fragen zu geben.

Der Morgen begann, wie jeder in den letzten drei Monaten, heiß und trocken. Und langweilig. Oh, wie unglaublich langweilig ein Vormittag in einem kleinen, verschlafenen Städtchen sein kann. Wer kann, fährt einfach fort. Oder schläft. Oder tat sonstwas. Hauptsache, man schwitzte nicht dabei.
Die einzige Oase inmitten des vielen, alles hier bedeckenden Staubes, war das Palais Saint Etienne, ein nettes, ruhiges und sehr nobles Schlößchen. Niemand im Ort kannte den Besitzer des Prunkstückes. Fontänen verbreiteten angenehme Kühle, versprühten das eiskalte Brunnenwasser zu feinem Nebel. Nun im Gegensatz zum Eigentümer war der momentane Bewohner Saint Etiennes sehrwohl bekannt und nicht weniger berüchtigt, da es hier kaum jemanden gab, bei dem dieser keine Schulden hatte. Den jungen, intelligenten, netten aber dennoch recht sonderbaren Mann schien dies nicht sonderlich zu beunruhigen. Obwohl augenscheinlich mittellos mußte jener schließlich einen recht vermögenden Gönner haben, der ihn ja auch hin und wieder besuchte. Mit jenem mochte man es sich dann doch nicht verderben und schrieb gerne weiter an.
An diesem tristen Morgen also, schlenderte der junge Mann die Hauptstraße in Richtung Post hinunter. Er pfiff einen alten Schlager und verfiel manchmal in kindische Hopserei. An seinem Ziel angekommen warf er dem süßen Mädel hinter dem Schalter einen Handkuß zu und bat sie um ein Telegrammformular. Nachdem er flüchtig ein paar Worte zu Papier gebracht hatte, schob er den Zettel durch die Schalteröffnung und setzte sein verführerischstes Lächeln auf:
– Würdest du mir ein letztes Mal die Gebühr auslegen? Bitte, bitte… – Sein Schmollmund brachte sie zum Lachen. Doch sie verschränkte die Arme und fragte: – Was hätte ich davon?
– Bitte, es ist auch wirklich das allerletzte Mal. Ich verspreche es bei meiner Ehre! – bettelte er.
– Weißt du überhaupt wie oft…? Ach… – Sie winkte ab. – Das kannst du gar nicht wieder gutmachen! – Sie spielte die Beleidigte und lächelte verführerisch.
Als er sie ganz unterwürfig ansah und auf die Knie zu sinken anbot, ließ sie sich erweichen: – Ich mach’s schon. Wer könnte dir Schwerenöter schon etwas abschlagen? Eine schwache Frau wie ich? … –
– Ich könnte dich küssen! -, rief er und war verschwunden.
Sie sah ihm versonnen nach: – Du Schuft, auch das hast du mir schon so oft versprochen.
Nach kurzem Überfliegen des Textes nahm sie den Telefonhörer in die Hand, um ihrer Aufgabe nachzukommen.
Adressat war eine ihr unbekannte Firma in Paris: arbeit vollendet +++ stop +++ hat sich gelohnt +++ stop +++ bringen sie genug geld mit +++ stop +++ bertrand jeanet +++ stop
Dem Telex zufolge hatte er etwas beendet, das ihm viel Geld bringen würde, wahrscheinlich sehr viel Geld. Sie mochte ihn für seinen Erfolg. Vielleicht liebte sie ihn, den Städter, sogar.

Er, Bertrand Jeanet, hatte es endlich geschafft. In dieser kreativen, örtlichen Abgeschiedenheit St. Etiennes, mit den Mitteln eines internationalen Konzerns, besser gesagt eines seiner Chefs, gelang es ihm, einen Apparat zu entwerfen und zu bauen, der einen alten Menschheitstraum wahr werden läßt, die vierte Dimension, die Zeit zu beherrschen. Er ist der Herrscher über Raum und Zeit. Endlich. Er und kein anderer. Auch wenn er dies nur mit Hilfe Fremder schaffen konnte, ist es doch ausschließlich sein Werk und sein Verdienst. Warum sollte er also den letzten ausstehenden Test am Menschen einem anderen überlassen? Auch wenn es so verabredet war, er pfiff darauf, sein geniales Werk von Außenstehenden noch einmal zerpflücken zu lassen. Von Zweiflern und Besserwissern, die noch vor Monaten felsenfest behaupteten, daß sein Plan irreal und undurchführbar sei. Hier steht es vor ihm. Das größte Meisterwerk der letzten hundert… nein tausend Jahre.
Egal, er würde die Maschine jetzt testen. Theoretisch könnte er ja schon wieder da sein, bevor er sich auf den Weg macht, um sich ein paar Tips zu geben. Er grinste bei dem Gedanken. Andererseits gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, was wohl passieren würde wenn das Zeitcontinuum zerrüttet würde. Er würde es testen, denn er hatte doch nun alle Zeit der Welt.
Er programmierte die Rückkehrzeit auf wenige Sekunden nach dem Start und beförderte sich gleichzeitig um hunderte von Jahren zurück. Genial. Mit schweißnassen Fingern betätigte er den Auslöser. Nach kurzer Zeit eines Schwindelanfalls verlor er jedes Schweregefühl. Ein dumpfes Grollen ließ in wieder voll zur Besinnung gelangen. Er öffnete zögerlich das Gerät und erschrak. Er sah gar nichts. Es war nichts um ihn. Vorsichtig setzte er einen Fuß in das Nichts, nach Boden suchend. Er fand Grund und prüfte seine Tragfähigkeit. Nun vermochte er auch das zweite Bein aus der Kapsel zu nehmen. Als er sich umdrehte um die Kapsel anzuschauen, sah er nichts…
– Was verdammt ist hier los? – er schrie förmlich in einen schallgedämmten Raum. Er fühlte sich wie in Watte verpackt. Beim besten Willen war es ihm unerklärlich, wo er sich befand. Die Vergangenheit existierte doch, also muß er doch etwas sehen. Was konnte die vierte Dimension mit seinem Geiste ausrichten. Da er sich nicht zu orientieren vermochte, setzte er sich nieder oder tat etwas, daß sich so anfühlte. Er griff um sich und spürte die Instrumente seiner Kapsel, als sitze er immer noch in ihr. Nun vermochte er, seine Augen aufzureißen und erkannte seine Kapsel wieder. – Mein Gott, was ist das für ein Schauspiel? – Er träumte mit offenen Augen und konnte sie dennoch öffnen. Ein Verwirrspiel. Funktionierte seine Maschine etwa doch nicht? Welche Einschränkungen brachte ihr Einsatz.
Er kehrte heim. Das gesamte Anwesen war unverändert, die Landschaft bekannt. Sein vielleicht halbstündiger Ausflug hatte nur wenige Sekunden gedauert. Die Maschine funktionierte also in Bezug auf die Gegenwart… Doch was ist, wenn die vierte Dimension in einer untergeordneten, der ersten bis dritten verschoben wird. Eine Fläche, also ein zweidimensionales Gebilde, setzt sich aus unendlich vielen Punkten, eindimensionalen Grundwerten zusammen, ein dreidimensionaler Raum aus unendlich vielen Flächen und die Zeit vermutlich aus unendlich vielen Räumen… Doch alles läßt sich auf die erste Dimension zurückführen. War er gerade in die erste Dimension gereist?
Erschöpft warf er sich in einen Sessel. Nur kurz die Augen schließen…

Vor seinen Augen tanzten Lichtpunkte, die sich zu einer Fläche fügten, die sich langsam entfernte. Plötzlich tauchten tausende gleichartiger Flächen auf, die sich mit der vorhanden zu einem Körper formten, der menschliche Gestalt annahm, um plötzlich auseinandergerissen zu werden und sich endlos dehnte. Milliarden von Flächen umschwebten ihn…
Bernard schrak auf. – Heureka, ich hab’s gefunden! – schrie er. Seine Finger glitten über die Tasten des Koordinators. – Die Zeit ist in sich endlos, setzt sich aber aus niederdimensionalen Einheiten zusammen. Wenn ich dem Zeitcontinuum folgen will, muß ich die Fläche des eigenen Lebens für eine kurze Zeit auslöschen, ihren Startwert aber als Rückkehrziel speichern. Jede Vergangenheit und jede Zukunft ist bereits vorhanden und in unendlich vielen ein- und zweidimensionalen Einheiten gespeichert. Welche dieser Flächen oder Punkte aktiviert wird, hängt von der subjektiven Reaktion des Individuums ab, daß mit seiner Reaktion in eine andere Fläche der vierten Dimension eintaucht. Darum konnte ich vor hunderten von Jahren nichts sehen. Es gab mich, diesen Ort und unseren Zusammenhang noch nicht. – Bernard schrie jedes Wort in den Raum, sich sicher, die Lösung gefunden zu haben.

Von seiner zweiten Zeitreise zurückgekehrt, wußte er, daß ihm der Nobel-Preis und aller Reichtum dieser Welt zufließen würde. Er war körperlich dort gewesen. Ein schwebendes zuschauendes Wesen. Mit ein paar Veränderungen im Programm würde er sicher eine historisch belegbare Anwesenheit erreichen können, die körperlich und aktiv sein würde. Die Arbeiten neigten sich ihrem Ende.
– Was geschieht, wenn ich im gleichen Augenblick starte und zurückkehre? Ich muß es wissen. – Mechanisch betätigte er die Tasten. So sei es. Am nächtlichen Himmel war bereits das Zittern der Hubschrauberrotoren zu vernehmen. Sein Gönner würde das fertige Muster bestaunen können, denn er, Bertrand das Genie, würde ja sofort zurück sein. Der Auslöser gab unter den zitternden Fingern nach. Die Möglichkeit, sich in allen Ebenen der Dimensionen bewegen zu können beschränkte seine Zielorte ebensowenig wie die Zeit. Er war da. Das Gras raschelte unter seinen Füßen. Sand preßte sich bei jedem Schritt zwischen seine Zehen. In der Ferne sah er eine vorrüberziehende Karawane auf die er zulief. Das Laken, das er um seinen nackten Körper gewunden hatte, ließ ihn nicht sonderlich auffallen. Er grüßte den Karawanenführer aus der Ferne, der eindeutig zurückgrüßte und ihm einige Worte entgegenrief, die er nicht verstand. Es konnte gut hebräisch sein. Er hatte sein Ziel mit Jerusalem mit Beginn der Zeitrechnung gewählt. Die Historie würde ihn einmal als den größten Erfinder aller Zeiten preißen. Bevor er zurückkehrte wollte er es noch einmal mit der Zukunft versuchen. Nur ein paar Jahre, um nicht die Ãœbersicht zu verlieren.

Er sah ödes Land, verfallene Städte, Verwüstung und Tod, gleichzeitig jedoch Wiesen, Blumen, Gärten, lebensfrohe, schaffende Menschen. Grau und Bunt. Ihm wurde bewußt, daß er bei einer Reise über die Gegenwart hinaus keinen Ort mehr angeben konnte und auch kein Datum, daß es ihm ermöglichte, eine Vorhersage zu machen. Ihn umschwebten alle möglichen Formen und Bilder der Zukunft. Sie subjektiv zu wählen, war der Menschheit noch nicht möglich. Darum verschwimmen sie ineinander als gleichbedeutende und gleichwertige Form der Zukunft.
Was wollte er hier? Sicher waren seine Vorstellungen von einer Zukunft auch darunter doch sie erschienen nicht klar. Nichtsdestoweniger war er aber wirklich dort, körperlich und aktiv.
– Auf nach Hause … -, jubelte Bernard und betätigte die Taste.
Kurz nur schoß ein Gedanke an das kritische Zeitcontinuum durch seinen Kopf, um sich in einer erfrischenden Entspannung zu verlieren.

Jäh wurde das Städtchen aus seiner Grabesruhe aufgestört, als eine dumpfe Detonation in der Luft schwang. Das Palais war in einer dichten Staub- und Nebelwolke verschwunden. Verständnislos und erschrocken stand das Mädchen vor ihrer Post und blickte auf das umwölkte Anwesen. Es war nichts zu erkennen. Die Bäume des Vorgartens schienen zusammengerückt zu sein, und einen Schutz vor dem Auge des Betrachters bilden zu wollen. Trotz des mondhellen Abends herrschte auf dem gesamten Anwesen stockschwarze Nacht.

Am kommenden Morgen lief das Postmädel zum Anwesen hinauf. Die Tore waren geschlossen. Ein Hubschrauber stand außerhalb des Geländes, das offenbar nicht betretbar war. Als sie am Tor rüttelte, hielt man sie zurück mit der Bemerkung, daß dort nichts mehr zu retten sei. Sie bemerkte trotz allem, daß die Bäume in der Tat sehr dicht standen und keinerlei Sicht auf das Palais freigaben. Bleierne Schwärze hing über dem gesamten Grundstück. Wenig später hob der Helicopter ab und verschwand in Richtung Paris. Sie konnte ihren Blick nicht von dem schwarzen Niemandsland abwenden. Selbst in dem riesigen an das Grundstück angrenzenden Park herrschte die selbe bedrückende, undurchschaubare und unheimliche Dunkelheit. Die Fontänen waren in sich zusammengesunken und versprühten endlos Wasser, das den Staub und den Boden zu klebrigem und immer tiefer werdendem Schlamm band.
Selbst das einige Tage später erfolgte Abstellen aller Versorgungsleitungen, gebot dem sich ständig ausbreitendem Morast keinen Einhalt. Die Zeit schien um das Palais an diesem schrecklichen Abend stehengeblieben zu sein.


 

Polizeibericht:
vor einem betreten des geländes um das ehemalige palais saint etienne wird gewarnt. mehrere personen gelten seit dem betreten des grundstückes als vermißt. schon während der untersuchungen des mysteriösen falls verschwanden ein polizist und eine junge zivilistin spurlos. aus benanntem grundstück kehrte genaugenommen keine person zurück. eine großräumige undurchdringliche absperrung wird angeraten.
paris, sonderdezernat