4. Kapitel

Frische Morgenluft zog durch die angelehnte Tür herein. Joe erwachte, als er Motorengeräusch wahrnahm. Es klang gefährlich vertraut. Er blinzelte verschlafen aus der Tür und riß die Augen weit auf. Schloß sie und öffnete sie erneut, ohne daß sich an dem ihm dargebotenen Bild etwas änderte.
Sergeant Bixby saß mit einem Fahrer, den er bislang noch nicht kannte, was für gewöhnlich nicht lange so blieb, in einem Streifenwagen und frühstückte in aller Ruhe.
Er drehte sich langsam zu seinem gerade erwachenden Kumpel um und meinte trocken: – Die Bullen sind draußen der Herr, geruht er zu empfangen?
– Wollen die zu uns?
– Schwer zu sagen, Charlie. Bixby frühstückt. Er hat sich gerade ein Ei gepellt…
– Er soll uns gefälligst etwas abgeben, ist fett genug…, Charlie glaubte fest an einen Bluff seinen Begleiters.
Nach einem prüfenden Blick auf den Vorplatz fiel ihm nicht mehr viel ein: – Schade, so lange war ich nun auch wieder nicht draußen. Offenbar werde ich doch gesucht…
Joe steckte den Kopf jetzt sichtbar zur Tür hinaus, stand auf und trat einen Schritt vor das Nachtquartier.
Bixby rief ihn sofort an: – Morgen Joseph. Ist zufällig ein Charles Harvet bei dir?
– Auch ihnen einen Guten Morgen, Sergeant. Warum wollen Sie das denn wissen?
– Ich muß ihn zum Yard bringen. Befehl ist Befehl., Bixby räusperte sich mehrmals, um nicht lauthals loslachen zu müssen.
Joe drehte sich zu Charlie um, der nur resigniert nickte. Dann wandte er sich wieder Bixby zu, der die Reaktion aus dem Inneren des Containers nicht hatte erkennen können.
– Wie geht es denn ihren Kinder?
– Bestens, danke. Willst du mich jetzt vom Thema ablenken.
– I wo, wie käme ich denn dazu… Und wie geht’s der Frau Gemahlin?
– Joe, bitte…
– Bixby, alter Kamerad… Wie geht’s ihrer Frau denn nun? ’s ist doch hoffentlich nichts passiert?
– Nein, Joe. Es ist alles bestens, danke der Nachfrage. Joe, bitte…, schick Charles Harvet raus, wenn er da ist.
– Von mir wollen Sie nichts?
– Nein, Joe, müßte ich?, Bixby griente quer durch seinen aufgedunsenen Gesichtsspeck.
– Ich dachte nur… Vielleicht hat mich ja jemand adoptiert, von dem ich wissen müßte.
Bixby hielt seinen Bauch, dessen Massen langsam in Schwung kamen, während er mit seiner angenehm sonoren Baßstimme eine Lachsalve über die Docks schmetterte. Nachdem er sich beruhigt hatte, entgegnete er: – Wir sehen uns zu angemessener Zeit sicher wieder, du alter Haudegen. Ist denn nun ein Charles Harvet bei dir?
– Na ja…, Joe kratze den Dreitagebart der linken Wange,: – Sie haben Glück… Mister Charles Harvet ist rein zufällig anwesend und gar nicht beschäftigt., In diesem Moment schob der Benannte die Metalltür ganz auf und schritt gemächlich auf den Wagen zu, in dem er die Handgelenke aneinandergelegt nach vorne streckte.
Bixby öffnete die hintere Beifahrertür: – Mister Harvet, ich bin Sergeant Bixby und habe die Aufgabe, sie zum Yard zu geleiten.
– Das haben sie aber schön aufgesagt. Wo bleiben meine Rechte?, Charlie war einigermaßen verwirrt, als er unter Ignorieren seiner eindeutigen Gestik sanft auf den Rücksitz gedrückt wurde.
– Ihre Rechte werden gewahrt bleiben., Bixby kicherte.
– Leute, irgendwas stimmt hier nicht…, und noch bevor die Tür ins Schloß fiel rief er zu Joe gewandt: – Bis bald!
Joe zuckte nur die Schultern, fand keine Antworten auf die sonderbaren Ereignisse. Sicher war er sich nur darin, daß dies keine Festnahme war. Er würde abwarten müssen.
Nun ja, wenigstens der Morgen versprach sonnig zu werden.

***

Der Wagen rollte zielsicher in Richtung Scotland Yard.
– Sie haben mich diesmal aber schnell gefunden., meinte Charlie, nur um überhaupt etwas zu sagen.
– Hmm…, Bixby nickte sichtlich zufrieden und schmunzelte.
– Wer hat mich denn erkannt?
– Niemand. Indizien, Mister Harvet, Indizien., Der Sergeant wollte diesen Landstreicher ein bißchen zappeln und im Ungewissen über sein Schicksal lassen, obwohl ihm klar war, daß Harvet selbst sich für irgendwas schuldig fühlte. Aber das war ihm in seiner Mission vollkommen egal. Heimlich überkam ihn sogar der Gedanke, daß solch ein Millionending immer die falschen trifft. Er schüttelte heftig den Kopf, um seine Gedanken des Neids und der Mißgunst herauszutreiben.
– Sergeant! Haben sie doch Mitleid…, Charlie wollte nun doch nicht ganz kampflos aufgeben.
– Sergeant… wegen ein paar lausigen Pfund bringen sie mich zum Yard?
– Nein und ja.
– Wie bitte?, Charlie war nun vollends desorientiert.
– Nein, es geht nicht um lausige paar Pfund…, Bixby dehnte den Begriff lausig zu einem grausam surrenden Gummiband. – …und ja, ich bringe sie nach Scotland Yard.
– Aber Sergeant…, Charlie wurde mehr als mulmig, – …haben sie ein Herz für einen armen Reisenden, der seinen Hunger irgendwie stillen muß., Er setzte die treuherzigste Mine auf, die er in seinem Grimassenfundus ergattern konnte.
– Seien sie still, Harvet! Es geht hier um…, der Sergeant durfte sich auf keinen Fall verplappern, wollte sich aber auch an der lächerlichen Angst des Landstreichers noch etwas weiden. Nur ein ganz klein wenig. – …um MILLIONEN.
– Mi… Mi… Millionen?, Charlies Gesicht verlor binnen Sekunden alle Farbe. Er schluckte laut. – Millionen,…, Sergeant, wie zum Teufel wird das denn geschrieben? Wie sieht sowas aus?, Ein Hoffnungsschimmer brach sich seinen Weg durch das schwerfällige Unterholz seines Bewußtseins: – Sie verwechseln mich. Ich bin ganz sicher, Sergeant.
– Ich hoffe für sie, daß dies nicht der Fall ist., Bixby blickte aus dem Wagenfenster, um seine verbissen gegen das Lachen ankämpfenden Grimassen vor Charles zu verbergen.
Charles sank resignierend auf den Rücksitz zurück. – Komische Logik…

***

– Chef, der Befohlene ist zu Stelle!
– Toll Sergeant. Das ging ja schnell. Bringen sie ihn rein.
Mit einer gewissen Endgültigkeit schloß sich die Tür hinter Charlie. Er ließ sich langsam auf den wohlvertrauten Stuhl vor dem Schreibtisch sinken.
– Setz‘ dich Charlie… Oh, du sitzt schon, auch gut… So!, wieder diese Endgültigkeit. Charlie haßte diesen Ton.
An Bixby gewandt sagte der Kommissar nur kurz: – Wären sie bitte so nett, meinem Gast und mir eine Tasse Tee oder besser Kaffee zu besorgen?, Der Angesprochene verschwand augenblicklich wieder.
– Name, Vorname, Alter, Beruf, Wohnanschrift…, Mackenzie sah Charlie grinsend an.
– Aber Chef… Es ist alles beim alten geblieben. Sie dürften hinsichtlich des Schreibens meiner Daten doch geübter sein, als ich selbst.
– Bist du da etwa stolz drauf?
– Keineswegs!, beeilte sich Charlie zu versichern. – Sie haben etwas gut bei mir. Sagen wir ich lade sie einmal ins „Tiffany“ ein, wenn ich wieder liquide bin…,
Statt des obligatorischen Abwinkens vernahm er ein bedrohliches „Ich nehme dich beim Wort, Charles.“ Wieder eine dieser Äußerungen, die nicht so recht in sein Weltbild paßten. Unterdessen war er sich gar nicht mal so sicher, heute Morgen überhaupt aufgewacht zu sein. Die Welt geriet aus den Fugen.
– Der Sergeant meinte, es gehe diesmal um Millionen?, Charlie mußte es gelingen, das Gespräch an sich zu bringen. Mit Mackenzie konnte er erheblich besser verhandeln, als mit dem Befehlsempfänger Bixby. – Mister Mackenzie, sie wissen doch, genau wie ich, daß dies nur eine Verwechslung sein kann. Ich und Millionen… Sagen sie doch selbst, das ist doch gar nicht meine Kragenweite.
– Nun, Charles, da magst du Recht haben., Mackenzie sah von seinem Schreibtisch nicht auf, wodurch Charlies mimische Eskapaden unbeachtet und somit wirkungslos verpufften.
– Was ist das alles für ein Papierkram?, Charlie wurde etwas ungeduldig.
– Ich vergleiche Angaben in einer Erbschaftsangelegenheit.
Charlie hielt es nicht mehr auf dem Platz und er begann unruhig auf und ab zu gehen. Nach einigen Durchquerungen des zugegeben recht kleinen Raumes, stützte sich Charlie auf den Schreibtisch und sah zum Kommissar. Dieser hob langsam den Kopf und sie blickten sich lange in die Augen. Charlie fiel dabei diesmal ganz deutlich auf, daß der Blick seines Gegenüber kein bißchen von der Endgültigkeit dieses Morgens hatte. Dort leuchtete ausgelassene Heiterkeit.
– Was ist hier los, Mackenzie? Können sie diese Erbschaftsklamotten nicht später vergleichen, wenn wir hier fertig sind. Ich möchte es endlich hinter mich bringen.
– Wenn ich dies später täte, wärst du mir im nachhinein sicher böse…, jetzt lachte Mackenzie ganz offen.
– Was zum Henker geht hier ab?, Charlie stemmte die Arme in die Hüften.
– Nun, Charlie, es ist deine Erbschaftsangelegenheit…
– Ich bin hier wegen einer Erbschaftsangelegenheit? So ein Quatsch. Meine Mutter ist lange tot und hat mir nichts hinterlassen. Andere Verwandte habe ich nicht., Charlie faßte sich an den Kopf. Das konnte einfach alles nicht wahr sein.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Bixby trat mit drei Plastikbechern ein.
– Ihr Kaffee, Chef., der Sergeant verzog sich unbeteiligt in eine Ecke.
– Danke Bixby… Mister Harvet, trinken sie erst einmal einen schönen starken Kaffee, der stärkt die Nerven.
– Ich brauche nichts stärken… Ich bin völlig umsonst hier. Mir war doch von Anfang an klar, daß ihr mich verwechselt., Charlie nahm den ihm hingehaltenen Becher dennoch.
– Danke.
– Trink, Charlie… Du wirst ihn wirklich brauchen.
– Ich glaube, Leute, wir reden aneinander vorbei., Charlie verging die Lust an diesem Schauspiel. Dennoch war er am Zuge: – OK, OK. Hat mir mein Mütterchen doch noch etwas vermacht, von dem ich nichts weiß?
– Ja.
Charlie wurde hellh̦rig. РWie bitte?
– Ja, Charlie. Deine Mutter hat dir Schulden hinterlassen, die von deiner Erbschaft auch bereits abgezogen sind.
– Dann kann ja nicht mehr viel übrig sein… Moment… Ich erbe also nicht von meiner Mutter?
– Nein, Charlie., Mackenzie erhob sich pathetisch. – Du erbst von deinem Vater. Und es ist schon noch ein wenig übrig.
Es gelang Charlie nicht, ein böses Lachen zu unterdrücken: – Mein Vater? Ich kenne ihn nicht, aber er kann nicht viel getaugt haben, wenn er meine Mutter allein ließ.
– In seinem Testament erklärt er vieles, wenn auch nicht alles. Er hat es bitter bereut, so gehandelt zu haben.
– Das ist mir herzlich egal, getan hat er es. Ich nehme die Erbschaft nicht an.
Mackenzie atmete tief durch: – Ich verstehe dich vollkommen aber dürfen wir noch etwas fortfahren, bevor du dich über Annahme oder Verweigerung entscheidest?
– OK., Charlie ging wieder auf und ab.
– Es ist ein recht erquickliches Sümmchen, das dir sicher dein Leben erleichtern wird.
Charlie blieb wieder vor dem Schreibtisch stehen und sah mit gerümpfter Nase zu Mackenzie.
– Wieviel ist es denn nun? Zehn?, Mackenzie schüttelte nur den Kopf, während er Charlie fest in die Augen sah.
– Mehr?, Charlie fand nicht unbedingt Gefallen an dem Ratespiel, aber der Kommissar schien verzweifelt nach einem Weg zu suchen, ihn, Charles Harvet, vor irgendwas zu schützen. Also spielte er weiter mit. Mackenzie nickte.
– Zwanzig?, Kopfschütteln.
– Mehr?, Nicken.
– Na gut, es soll sich ja angeblich lohnen… Fünfzig?, Charles trumpfte auf. Er kannte niemanden, der soviel Geld übrig hatte. An Mackenzies Mine las er aber ab, noch immer nicht am Ziel zu sein. – Noch mehr?, Wieder Nicken.
– Sechzig!?… Siebzig!?… Achtzig!?… Neunzig??, langsam bekam Charlie weiche Knie. Er würde reich werden… – Noch mehr?? Mackenzies Kopfnicken bestätigte Charlie, daß er reich war. Mehr als 90 Pfund Sterling. Wie lange war das her, daß er zum letzten Male soviel Geld in der Hand gehalten hatte… Aber… Wenn die Schulden seiner Mutter abgezogen worden waren, die sich mit Verzinsung bestimmt unterdessen auf knapp tausend Pfund beliefen und noch immer eine Summe da war, die ihm das Leben erleichtern sollte… Ok, jetzt war er mit Scherzen an der Reihe. Schließlich hatte er ja schon mit Joe darüber gefachsimpelt, was er alles im Süden anstellen würde…: – Ist es etwa eine Million?, Mackenzie schrak kurz auf, stellte aber sofort fest, daß Charlie bluffte.
– Nein, Charlie…
– Das dachte ich mir gleich, wer vermacht mir schon eine Million…
– Charlie!, unterbrach ihn Mackenzie, – es ist noch mehr.
– Klar doch…, Charlie schüttelte den Kopf, – müssen sie mit mir solche Spielchen spielen?
Der Sergeant trat aus seiner Ecke heraus und ergriff den herrenlosen Stuhl: – Nein, Charles. Es geht nicht um ein paar Pfund, es geht um Millionen…
Diese Wortwahl wiedererkennend, mit der er im Wagen konfrontiert worden war, begannen seine Knie den Gummimambo zu schlackern. Es gelang Bixby gerade noch, ihm den Stuhl zuzuschieben, auf den er fiel.
– Ungefähr 100 Millionen Pfund Sterling.
– Die Millionen waren gemeint?, Charles Stimme versagte fast. Mackenzie nickte erneut.
– Kein Scherz?, das letzte bißchen Hoffnung auf sein normales Ganovenleben schwang in den Worten mit.
– Ich hieße jetzt lieber Charles Harvet, Jahrgang 1966 und könnte mich sogar damit abfinden, einen reichen Vater gehabt zu haben, der die ihm auferlegten, gesellschaftlichen Zwänge zu seinem Ende hin verteufelte und mich aufgrund seines schlechten Gewissens zum Alleinerben bestimmte., Mackenzie versuchte die psychologische Tour. Nicht sonderlich gut, das lag ihm auch nicht. Ihm fiel aber wie so oft der rettende Satz ein: – Du kannst die Erbschaft selbstverständlich auch zurückweisen, dies hieße aber, daß du mich gar nicht ernstlich zum Essen einladen wolltest.
– Wo muß ich unterschreiben?, Charles war sich nun hundertprozentig sicher, einen schlechten Traum zu träumen. – Ich unterschreibe nur und bin Millionär?
Mackenzie nickte auch jetzt: – Genau…. Na unterschreibst du nun?
– Ich weiß nicht genau, ob ich das kann…
– Du weißt nicht, ob du Millionen erben möchtest?
– Nein, ich habe vergessen, wie man schreibt.
– Oh Gott… Tu mir das nicht an…, Mackenzie war der Verzweiflung nahe. – Bitte probiere es auf einem leeren Blatt Papier, bis du dich erinnerst. Du hast alle Zeit der Welt. Zur Not nehme ich dich in Schutzhaft.
– Ich versuche es ja…, Charlie brauchte zahlreiche Anläufe, bis er seinen Namen halbwegs leserlich zu schreiben vermochte. Dies wiederholte er dann auf dem Formular. Nun schienen ihm einige Millionen Pfund zu gehören und er? Er spürte gar nichts. Es hatte sich überhaupt nichts verändert. Er war noch immer Charles Harvet.
– Und, wie geht es jetzt weiter?, fragte er an Mackenzie gerichtet.
– Bixby wird mit dir durch die Läden ziehen und dich ein wenig einkleiden, während ich alles in die Wege leite, daß du alle nötigen Ausweispapiere erhältst…. Herzlichen Glückwunsch.
– Kein Problem…, Charles drehte sich zu Bixby um, der eine einladende Handbewegung zur Tür hin andeutete.
– Ach, Charlie?
– Ja., der Angesprochene fuhr herum.
– Ich verlaß mich auf deine Einladung!, Mackenzie grinste.
Irgendwie wirkte er nun wie Joe, nur das hier mehr Zähne im Spiel waren.