Eine neue Welt 6

Die Luke war nicht sehr groß, schien aber gleichzeitig die Ladeluke zu sein, denn sie betraten als erstes einen mäßig großen Laderaum. Brin schätzte ihn auf vielleicht hundert Standardpaletten. Ein paar Paletten standen einsam herum. Vermutlich handelte es sich dabei um Material zur Energieversorgung des Schiffes.
Der ganze Rumpf schien vor Energie zu summen. Stenyard nahm es zur Kenntnis und trat durch ein schweres Schott in einen schmalen Gang. Im hinteren Teil des Flures befand sich eine Treppe nach oben. Diese führte vermutlich zu den Mannschaftskabinen, während es geradeaus zum Maschinenraum gehen musste. Woher wusste er das? Er kannte viele Schiffe, in denen es ähnlich aussah. Vielleicht erklärte dies auch sein Déjà-vu Erlebnis in diesem Moment. Es bestand kein Zweifel daran, dass er dieses Schiff noch nie in seinem Leben betreten hatte. Wie auch. Er schüttelte leicht den Kopf, um ihn wieder frei zu bekommen. Lana Geser bemerkte dies nicht, da sie voraus ging.
„Ich würde gern zuerst den Maschinenraum besichtigen.“ sagte Stenyard, als seine Begleiterin den Griff nach dem Handlauf der Treppe ausstreckte. Sie lächelte höflich und nickte nur, während sie der Tür am hinteren Flurende entgegen strebte.
Der Maschinenraum lag weitgehend im Dunklen. Brin streckte die Hand nach einem Sensor aus, von dem er instinktiv wusste, wo er zu finden war. Nun, das wusste man in einem vernünftig gebauten Haus auch. Als das Licht aufflammte verstärkte sich das eigenwillige Gefühl Brins weiter. Nein, das war kein Gefühl mehr. Er kannte diesen Maschinenraum als hätte er hier monatelang selbst gearbeitet. Alle Armaturen waren ihm auf Anhieb bekannt. Noch immer versuchte er, diesen Umstand auf seine Erfahrungen der letzten Jahre zu schieben, in denen er viel zeit in den Eingeweiden seiner Schiffe verbracht hatte.
Lana Geser räusperte sich. „Captain, zu diesem Bereich dieses Artefaktes kann ich Ihnen leider gar nichts sagen. Diese Antriebe sind nie in Betrieb gewesen, seit wir das Schiff fanden. Obwohl unsere Wissenschaftler sicher waren, welche Funktion die einzelnen Konsolen ausüben müssten, ist keine von ihnen gestartet.“
„Wie haben Sie das Schiff gelandet, Konsul?“ fragte Stenyard.
„Gar nicht. Das Schiff hing am Haken. Wir haben es geborgen und hierhin geschleppt. Die Systeme sprangen nicht an. Sie bekommen wahrscheinlich keine Energie.“
Brin Stenyard mochte das nicht glauben, denn Energie gab es hier in Hülle und Fülle. Die Hülle summte ebenso, wie die Konsolen selbst. Er konnte mit seiner Meinung auch nicht länger hausieren gehen. Dieses Schiff hatte alles, was es brauchte.
„Nun, Captain, ich kann das nicht beurteilen. Ich bin weder Techniker noch Wissenschaftler. Ich kann nur sagen, was unsere wissenschaftliche Crew geäußert hat. Wenn alles so ist, wie es sein soll, dann fehlt uns ‚das gewisse Etwas‘.“
„Nein, Lana, das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie haben extrem konkrete Vorstellungen davon, was Ihnen hier fehlt.“ Brin grinste, während Lana Geser ihr Lächeln zurück gewann. „Ihnen fehlt ‚der gewisse Jemand‘.“
Stenyard blickte auf die Konsolen. Er kannte sie. Alle. Er schloss die Augen, um sich die Anordnung der Konsolen in seiner Zerberusklasse zu verdeutlichen. Versuchte sich an all die Schiffe zu erinnern, auf denen er zuvor gedient hatte. Nein, diese Konsolen konnte er nicht kennen. Sein Gehirn musste sich in einer Täuschung verrannt haben.
„Lassen Sie uns gehen, Lana. Es gibt sicherlich noch mehr zu sehen.“ Bevor er das Licht am Ausgang zum zweiten Flur wie selbstverständlich löschte, blickte er sich erneut um und verdrängte seine Gefühle, so gut es ging.
Seine Begleiterin sprach in ihren Kommunikator. Brin bekam nicht wirklich mit, worum es ging, denn seine Gedanken kreisten. Sein Unterbewusstsein kochte altes Zeug auf. Ãœberlagerte sein Wissen mit dem Gesehenen. Anders konnte es nicht sein.
„Captain?“
Brin schreckte auf und blickte den Konsul an.
„Captain, auf der Brücke erwarten uns Dr. Sinar, der wissenschaftliche Offizier und Chief Zack, der Systemtechniker.“
Brin nickte nur. Auf dem Weg zur Treppe bemerkte er noch das lautere Brummen im Inneren. Vermutlich befanden sich die Generatoren zwischen den beiden Fluren des symmetrisch aufgebauten Schiffes. Symmetrie ist so typisch menschlich. Sie sorgt für Ruhe und für die benötigte Selbstverständlichkeit der Bedienbarkeit, die allen, ihm bekannten Schiffen eigen ist. Vermutlich machte ihm dies im Moment zu schaffen.
Oberhalb des Generatorblocks würden sich Labore und andere, technische Einrichtungen befinden. Oberhalb der Treppe musste es einen Quergang geben, der zum zweiten Aufgang gegenüber führte und in dessen Mitte der Hauptflur in beide Richtungen abging. Alles war wie immer. Brin entspannte sich, stieg die Stufen hinauf, ging in den erwartet abzweigenden Hauptflur, betrachtete gelassen die Mannschaftsquartiere, bis er zu Offiziersmesse gelangte, die ein Panoramafenster zur Front des Schiffes hinaus besaß. Demnach befanden sich die Quartiere der Offiziere noch einen Flur höher. Da die Kabinen dort größer waren, würde der Flur sich leicht seitlich und nicht genau in Schiffsmitte befinden. Er musste also nur rechts abbiegen, in den Aufzug steigen und sich eine Ebene nach oben tragen lassen.
Seine Begleiterin blieb plötzlich stehen und sah ihn an: „Captain, woher kennen Sie dieses Schiff? Ich erwarte eine ehrliche Antwort.“
„Liebste Lana, ich wäre vorhin nicht so überrascht gewesen, wenn ich es kennen würde. Es entspricht einfach dem typischen Aufbau von Schiffen. Es ist eines von vielen.“
„Captain, das halte ich für vollkommen ausgeschlossen.“
Stenyard blickt sie verwundert an. „Konsul, ich versichere Ihnen, dass ich dieses Schiff noch nie in meinem Leben gesehen, geschweige denn betreten habe.“
„Stenyard, Sie müssen dieses Schiff kennen, denn es entspricht keinem heute bekannten Modell.“
„Lana, ich fliege seit mindestens 20 Jahren mit den Schiffen verschiedenster Klassen. Sie sind alle ähnlich aufgebaut.“
„Captain, Brin, ich muss ihnen widersprechen? Vielleicht kenne ich nicht alle schiffe, habe bisher auf keinem gedient, aber… Bitte folgen Sie mir!“ Sie ging zu einem Terminal und rief Baupläne ab.
Dann sagte sie mit der Hand auf die Pläne verweisend: „Die Zerberusklasse ist vollkommen asymmetrisch aufgebaut, um diese Schiffsklasse im Kampf auszubalancieren. Die Flure sind dadurch verwinkelt.“
Brin versuchte, sich den Aufbau seines Schiffes vor Augen zu führen. Sicherlich hatte er einiges verändert aber…, Lana Geser hatte vollkommen recht. Die Zerberusklasse war eine ausgewogene, ausbalancierte aber in der Bewegungsfreiheit fürchterlich einschränkende Nussschale mit lauter Ecken und Kanten. Ok, an die Zerberus-Klasse hatte er sich dabei wohl nicht erinnert gefühlt. Dann waren es halt die Leviathans, Behemoths oder Transportschiffe.
Lana Geser blätterte zu den anderen Schiffstypen durch. „Ich gestehe ein, sagte sie, dass unsere Informationen zu den Kampfschiffen nicht unbedingt neuesten Datums sind. Aber bitte schauen Sie sich diese Schiffe an. Ich bitte sie. Keines ähnelt der Thanatos.“
Brin verfolgte Gesers Handbewegungen. Die Leviathanklasse besaß mehrere Etagen mit Mannschaftsquartieren, einen innen liegende Offiziersmesse, was dem Schutz diente und keinen frei liegenden Zugang zu den Offiziersquartieren und der Brücke, die sich zudem im Inneren des Rumpfes befand. Nun, das war bei Kriegsschiffen ja auch logisch.
Ein Aeon war zweckmäßig gebaut und besaß keine Offiziersmesse sondern einen Mannschaftsspeisesaal. Die Quartiere dort befanden sich auf der unteren Ebene, die Brücke oberhalb des, fast das gesamte Schiff umfassenden Laderaums. Außerdem lag der Maschinenraum in einem erhöhten Sektor, wie es bei allen Transportschiffen der Fall war, damit die Antriebe nicht das Stauen behinderten.
Der Helios kam in seinem Aufbau der „Thanatos“ noch am nächsten. Er besaß, abgesehen vom ebenfalls oben liegenden Antriebssegment mehrere Etagen. Doch diese lagen alle im hinteren Teil des Schiffes, wo sich auch der Aufgang zur Brücke befand, die oben auf dem Rumpf thronte. Nein, eigentlich hatte auch ein Helios keine wirkliche Ähnlichkeit.
Hinzu kam, dass er, Captain Brin Stenyard, zugehörig der Fraktion der Martian, noch nie in seinem Leben auf einem Helios- oder Imperialfrachter gedient hatte.
Lana Geser sah ihn nun nicht mehr nur an, sie hielt auch eine Energiewaffe auf ihn gerichtet. Brin erstarrte und hob instinktiv die Hände.
„Captain Brin Stenyard, wer oder was zum Teufel sind Sie?“ Doch der Angesprochene zuckte nur mit den Schulter.
„Liebste Lana, das wüsste ich auch gern.“
Lana Geser kontaktierte ihre Sicherheitscrew, nur um letztlich herauszufinden, was Brin ja bereits wusste. Bis heute hatte er sein Schiff nicht verlassen. Die Körperwärmedetektoren hatten ihn permanent innerhalb seines Schiffes erfasst. Es lagen keine Manipulationen vor. Der „Thanatos“ habe sich in den letzten Monaten außer der berechtigten Bodenmannschaft niemand genähert. Sprich niemand wusste von diesem Schiff. Auch Brin Stenyard bis heute nicht.
Seine Begleiterin ließ die Waffe sinken und verstaute sie irgendwo hinter ihrem Rücken. Brin senkte seine Arme, während er überlegte, wo sie diese Waffe in dem derart engen Kostüm überhaupt ließ. Er hatte sie nicht bemerkt. War er fahrlässig geworden?
Ihr musste ein anderer Gedanke gekommen sein. „Captain, beschreiben Sie mir doch bitte, was wir in den beiden oberen Ebenen vorfinden werden.“
Brin konzentrierte sich auf sein Gefühl, das ihn bis hierher geleitet hatte. Die Betrachtung der Schiffsbaupläne hatte ihn irgendwie aus dem Konzept gebracht.
„Moment.“ sagte er, ging ein paar Schritte in den Flur zurück, den sie vorhin gekommen waren und blickte sich lange um. Sein Gefühl schien wiederzukehren. Mit geschlossenen Augen ging er in die Offiziersmesse zurück, wandte sich nach rechts und begann zu sprechen: „Ich benötige fünf Schritte zur Tür des Aufzuges. Dieser trägt mich ein Stockwerk nach oben zu den Offiziersquartieren. Außer über die extrem kalte, äußere Hülle gibt es keinen anderen Weg dorthin. Lüftungssystem und technische Systeme befinden sich auf der oberen Ebene, wenn man diese etwa bis zur Hälfte des Schiffes zurück geht. Dort befindet sich ein Schott mit zwei Radschlössern.
Drehe ich mich um und gehe den Flur zurück in Richtung Messe, komme ich an einer rechts liegenden, unscheinbaren Tür vorbei. Sie ist mit… mit… das ist verschwommen… mit B11 beschriftet. Hinter ihr befindet sich ein Treppenaufgang zur Brücke. Der Aufzug befindet sich nahe des vorderen zur Messe auf der anderen Seite des Flurs. Der Captain hatte seinerzeit aufgrund der Lärmbelästigung sein Quartier mit dem gegenüber liegenden des 1. Offiziers getauscht.
In der zweiten Inspektion wurde der Lift gegen eine Antigravplattform ausgetauscht…“ Brin grinste. Seine Miene gefror jedoch als ihm klar wurde, dass er den Großteil der Informationen gar nicht haben konnte. Er wusste Dinge. Ja, er wusste.
„Lana, ich kann Ihnen wirklich nicht erklären…“ begann er, sah jedoch in ein zufrieden lächelndes Gesicht. Der totale Kontrast zur Bestürzung, die sie noch vor wenigen Minuten gezeigt hatte. Sie kreiste mit der Hand, um ihn zum Weiterreden zu bewegen.
„Die Brücke misst etwa acht Meter in der Breite und fast zwölf Meter in der Länge. Sie wurde nach dem Beispiel vieler Science Fiction Filme eingerichtet. Der Platz des Kapitäns befindet sich im vorderen Drittel mittig. Zu seiner Linken befindet sich der Platz des Navigators, zu seiner Rechten der des Kommunikationsoffiziers. Die Wissenschaftliche Station befindet sich hinten links, der des Waffenoffiziers hinten rechts. Hinter ihm befindet sich eine Nische. Diese kann ausschließlich durch den Waffenoffizier geöffnet werden. Ich komme gerade nicht dahinter, wie dies geschieht. In dieser Nische befindet sich der Neurotransmitter in Form eines Stuhls zur Steuerung der Waffensysteme.“ Er sah Lana Geser an. „Zufrieden?“
Zu seiner Überraschung zeigte sie keine. Sie nickte nur und wies mit dem Arm zum Lift. Er erwies sich als relativ eng für zwei Personen. Sie standen einander gegenüber, sahen sich in die Augen. Lana war nur wenig kleiner, als er. Lana Geser war eine durchaus beeindruckende Frau. Und begehrenswert. Sie trat als erste aus dem Aufzug, wandte sich direkt nach Links und öffnete die Nische zur Antigravplattform. Sie schwebten in der Röhre so schnell nach oben, dass Brin sich keine Gedanken um seine Gefühle machen musste, die er womöglich zu hegen begann. Er schob es schlicht auf seine, nun schon relativ lange andauernde Enthaltsamkeit.
Ihnen kamen ein Mann und eine Frau entgegen.
„Captain, darf ich vorstellen, Chief Zack, Zack, das ist Captain Stenyard.“ Zack deutete eine leichte Verbeugung an, als er Brin die Hand reichte.
„Und dies ist Dr. Sinar unser Wissenschaftsoffizier.“ Brin nahm die ihm im Zuge der Begrüßung angebotene Hand und hielt sie genüsslich fest.
„Von den Skolari.“ fuhr Lana Geser fort.
Wäre nicht der sehr starre und fast gelangweilte Ausdruck gewesen, hätte man diese Frau glatt für attraktiv halten können. Er blickte auf die in seiner liegende Hand, die Dr. Sinar offenbar gar nicht zurück haben wollte. Wohlige Wärme stieg durch seinen Arm, breitete sich über die Schultern in seinem ganzen Körper aus.
“Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, Doktor, aber sind sie wirklich eine Skolari“ Brin stockte.
Offenbar konnte sie doch lächeln. „Ja, Captain, das bin ich.“
„Fein,“ sagte Lana, „dann haben wir ja alles Nötige geklärt. Ich lasse Ihnen Captain Stenyard hier. Erklären Sie ihm, was erklärt werden muss oder lassen Sie es sich von ihm erklären. Ganz nach Belieben.“ Sie genoss das erstaunte Gesicht Zacks sowie die angedeutete Überraschung der sehr kontrollierten Dr. Sinar und verließ die Brücke mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen.