Eine neue Welt 7

„Captain Stenyard,“ sagte Zack, „darf ich fragen, was Frau Konsul damit meinte, uns etwas von Ihnen erklären zu lassen? Kennen Sie dieses Schiff?“
Brin sah den Chief an und sagte: „Nun, ich dürfte es nicht kennen doch irgendein… sagen wir Schalter wurde bei mir umgelegt, als ich es betrat. Es sieht alles so aus, als würde ich die Thanatos kennen, ja. Mir sind alle Konsolen und deren Funktion geläufig und ich weiß nun auch, warum Sie einen Großteil der Systeme nicht starten konnten.“
Der Techniker sah ihn erstaunt an, sagte aber nichts. Offenbar wartete er, das Brin seine Ausführungen fortsetzte, was er daraufhin auch mit einem Seitenblick auf die ebenfalls interessiert blickende Dr. Sinar tat.
„Die Thanatos stammt, wie Sie sicherlich aus alten Überlieferungen wissen, von der Stammwelt der Menschheit, der Erde. Die Erbauer setzten einiges daran, Dritten eine Übernahme des Schiffes unmöglich zu machen. Das ist aus der Gliederung der Decks ebenso zu schließen, wie aus der Absicherung aller Schlüsselsysteme.
Ich gehe einmal davon aus, dass Sie einige davon durch explizite Energiezufuhr unter Umgehung der Konsolensteuerung in Betrieb nehmen konnten. Wie z.B. die Tarnvorrichtung…“
„Das ist korrekt, Captain.“, sagte Zack.
„Wenn ich mich recht erinnere…“ Wie unsinnig das klang, wo Brin das Schiff ja an sich nicht kennen konnte. Er schüttelte kurz den Kopf und setzte neu an. „Soweit ich zu wissen glaube, nutzten die Menschen eine Art genetischen Fingerabdruck, um die Konsolen den zuständigen Offizieren zugänglich zu machen. Ein Ansprechen der Konsolen war nur möglich, wenn man bestimmte, typisch menschliche Genstrukturen besaß. Durch den Wechsel der Galaxis und völlig neue Lebensumstände von der Ernährung über die gesamte Lebensweise unter veränderten, atmosphärischen Bedingungen dürfte diese spezielle Genkombination verloren gegangen sein. Ich deute es aber gern einmal zur Demonstration an.“
Stenyard trat an die Hauptsteuerkonsole des Kapitäns heran und suchte zuerst in seiner Erinnerung dann an der Konsole selbst eine kleine Mulde, in die man einen Finger legen konnte. Er fand sie am rechten Rand und drückte den Zeigefinger darauf.
„So in etwa würde das funk… au, beim Mars.“ Obwohl alle Instinkte in ihm rebellierten, beließ er den Finger an Ort und Stelle. Eine Nadel hatte sich in seine Fingerkuppe gebohrt und saugte gierig die abgegebenen Blutstropfen auf. Der Stich dauerte nur ein, zwei Sekunden. Dann zog sich die Nadel zurück und in der Mulde bildete sich etwas Wärme um seinen Finger. Der Konsole entrang sich ein kurzer Signalton. Ebenfalls ohne bewusstes Wissen, nahm er seinen Finger wieder herunter und drehte sich zu seinen Gesprächspartnern um.
„So etwa hat das damals funktioniert. Doch wie ich schon sagte, die Gene der heutigen Menschen sind schlicht und ergreifend nicht mehr kompatibel.“ sagte Brin.
Chief Zack und Dr. Sinar blickten jedoch an ihm vorbei und in Zacks Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Bewunderung und Entsetzen wieder, während der Wissenschaftsoffizier sich zumindest zu einer überraschten Miene herab ließ.
„Was ist?“ fragte Brin und folgte den Blicken. Die Hauptkonsole arbeitete. „Oh…“ sagte Brin nur.
„Captain Stenyard,“ fand Dr. Sinar als erste ihre Sprache wieder, „wir kannten die Mulde und wussten um deren Bedeutung. Allerdings ist es keinem Skolari und keinem Taradori bisher gelungen, sie zu einer Regung zu veranlassen.“
Stenyard blickte nun selbst überrascht, während Dr. Sinar fortfuhr.
„Mir ist bewusst, dass man Sie zu einem, wie soll ich sagen, zu einem Messias hoch stilisiert hat, der eine Prophezeiung zu erfüllen habe. Die Skolari haben dafür allerdings eine gänzlich andere Erklärung. Unsere Aufzeichnungen reichen um einiges weiter zurück, als die der anderen Fraktionen. Nun bin ich ganz sicher, dass Sie, Captain Stenyard, zwar unser Mann sind, Sie sich aber auch darüber im Klaren sein müssen, dass Sie ganz gewiss kein Angehöriger der Martian-Fraktion sind. Dies ist lediglich die Tarnung, die Ihr Orden für Sie gefunden hat.“
Dr. Sinar lächelte und kostete Brins Überraschung aus.
„Orden?“ sagte Brin. Er überlegte lange, fand aber in seiner ganzen Vita keinen Bezug zu einem Orden. Seine Eltern? Beim Mars, er kannte seine Eltern nicht. Brin war Ziehsohn einer martianischen Kriegersippe. Ein Findelkind.
Dr. Sinar fuhr fort: „Viele nennen diesen Orden auch seit Langem schon die ‚Vierte Fraktion‘.“
Bei diesen Worten regte sich etwas in Stenyards Hirn. Wieder wurde ein Schalter umgelegt und beleuchtete frische Informationen, die er auf keinem herkömmlichen Wege erlangt haben konnte. Die von Dr. Sinar erlangte Wärme bündelte sich in seinem Körper und stieg über den Nacken in seinen Kopf auf.
„Die ‚Vierte Fraktion’“, sagte Stenyard fast wie in Trance, „wir sind die ‚Homin‘, wir bewahren das Erbe der Menschheit, wir sind der Orden der Bewahrer. Unser Gedächtnis ist genetisch. Wir tragen den Code der Menschheit durch die Zeiten des Dunkels, des Lichts und der geheimen Welt dazwischen. Wir bewahren Wissen auf die einzige, mögliche Art und Weise, geschützt vor dem Zugriff Fremder. Unsere Kinder und Kindeskinder sind Bewahrer der einzigen Wahrheit. Sie halten das Wissen der untergegangenen Welt in ihren Händen, um es zum Nutzen der ganzen Menschheit einzusetzen. Unsere Wege sind verschlungen. Ohne uns herrscht das Chaos allein. Wir sind die ‚Homin‘. Die wahre Erkenntnis ist unser.“
Hätte Stenyard nicht gesessen, wäre er hinterrücks lang hingeschlagen. Die Schwäche überfiel ihn schlagartig. Dies war allerdings nichts im Vergleich zu den unbeschreiblichen Kopfschmerzen, die unmittelbar darauf einsetzten. Sein Gehirn wurde mit Informationen geflutet. Wissen das längst verloren geglaubt war. Kenntnisse über zwielichtige Aktionen aller Fraktionen, seit es sie gab. Aber, beim Mars, Wissen war niemals objektiv. Es war gefärbt von Emotionen und persönlichen Erlebnissen. Wissen war niemals absolut.
Brin Stenyard kippte aus dem Stuhl, hielt seinen Schädel und wand sich am Boden, während Zack und Sinar sich neben ihn hockten und ihm zu helfen versuchten.
„Rufen Sie Dr. Quinto, Chief!“ sagte Sinar. „Er soll zur medizinischen Station kommen. Ich bringe Stenyard dorthin.“
Zack nickte und kontaktierte den Mediziner der Bodenstation.
„Das habe ich nicht gewollt. Wie sollte ich das ahnen? Bitte verzeihen Sie mir…“ flüsterte Dr. Sinar.

Als er zu sich kam, wedelte gerade ein Mann im weißen Kittel mit einer grellen Lampe vor seinen Augen herum.
„Oh, Sie sind wach, Mr. Stenyard, entschuldigen Sie…“ Dr. Quinto steckte die Taschenlampe in den Kittel und richtete sich auf.
Wäre sein Gegenüber nicht so braun gebrannt gewesen, hätte man ihn glatt für einen typischen Schiffsarzt halten können. Durchtrainierte, sportliche Figur mit maskulin breiten Schultern. Ein Surfer-Typ. Auf langen Flügen ging die Sonnenbräune für gewöhnlich verloren. Daher nahm er an, dass es sich bei dem Arzt wohl doch eher um eine Landratte handelte. Die Krankenstation befand sich allerdings ganz klar auf einem Schiff und die Inventarbezeichnungen an den medizinischen Geräten deuteten darauf hin, dass er sich noch immer an Bord der „Thanatos“ befand.
Doch irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Oder besser, der Arzt passte nicht ins Bild.
„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte er den seinen Gegenüber.
„Dr. Finn Quinto. Taradorische Fraktion. Bordarzt der Thanatos.“ sagte der und fuhr fort, „Und Sie sind Captain Brin Stenyard!?“
Nun das klang mehr nach einer Feststellung als einer Frage, also beließ es der Patient dabei. Den Namen kannte er zwar, hätte ihn aber nicht unbedingt auf sich bezogen. Es fühlte sich eher wie ein Schatten aus einem fremden Leben an.
„Sie haben einen mentalen Schock erlitten, als sich die genetisch gespeicherten Informationen in Ihr Gehirn quasi ergossen haben. Möglicherweise sehen Sie derzeit dieses Schiff noch als ein ehemaliges Crewmitglied. Das können wir nicht ausschließen. Daran sind die Rahmenbedingungen hier schuld. Es wird einige Tage dauern, bis Sie die Informationen vollständig auseinander zu halten vermögen. Sprich Ihre Erinnerungen und die gespeicherten Daten.“ sagte Dr. Quinto.
„Keine Sorge, Doktor Quinto, ich werde Sie nicht anschnauzen und aus der Krankenstation meines Schiffes verjagen. Es klingt zwar alles völlig hirnverbrannt, was Sie mir da gerade erzählen aber noch verrückter ist, dass ich weiß, wann und wo ich starb, wer mein Nachfolger wurde und was er mit diesem Schiff getrieben hat. Können Sie mir sagen, welches Jahr wir haben, Doktor?“
„Ich bedauere, Mr. Stenyard, wir berechnen die Zeit seit vielen Generationen in Sternzeit. Die Uhr nach einer Welt zu bemessen, die unendlich weit entfernt ist, hat sich schlicht nicht bewährt.“ Der Arzt lächelte.
„Ah, ja, schade…“
„Mr. Stenyard, ich werde Sie nun eine Weile allein lassen. Ein leichtes Beruhigungsmittel sollte Ihre geistigen Funktionen kaum beeinträchtigen, wird Ihnen aber etwas Schlaf gönnen. Sie brauchen ein paar Tage, wie ich schon sagte.“
„Würden Sie bitte die Arm- und Beinschlingen entfernen, Doktor. Das fühlt sich definitiv falsch an.“
„Sehr gern, aber bitte, schlafen Sie.“
„Ja, das werde ich.“ Der Patient fiel langsam zurück in eine beruhigende Schwärze. Er schlief traumlos.
Lana Geser trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte. Die Assistentin von Rat Larson, dem taradorischen Gouverneur Shingans, hatte sie in den kleinen Besprechungsraum geführt. Hier wartete sie nun schon eine geschlagene halbe Stunde auf das Erscheinen des Potentaten. In der Spiegelwand öffnete sich eine Tür, die sie bis dahin nicht als solche wahrgenommen hatte und Larson trat ein.
„Entschuldigen Sie, Konsul Geser, dass ich Sie habe warten lassen. Regierungsgeschäfte…“ sagte er.
Lana Geser erhob sich.
„Rat Larson, sie haben mich in der Sache Stenyard auflaufen lassen.“ sagte sie wütend. „Lassen mich von einer Prophezeiung schwafeln, wie ein Schulmädchen. Warum haben Sie mich nicht eingeweiht? War ich Ihnen nicht die Wahrheit wert?“
„Beruhigen Sie sich, Konsul.“ sagte Larson gelassen. „Wir waren uns seiner nicht sicher. Nur Dr. Sinar war in ihrer Rolle als uns bekanntes Mitglied des Ordens in der Lage, die Umstände zu deuten und die Erinnerungen Stenyards zu wecken. Uns war nicht klar, dass bereits das Schiff als solches unterbewusste Reaktionen seinerseits bewirken könnte. Außerdem war nicht vorhersehbar, dass wir es mit einem Großmeister zu tun haben würden. Nicht einmal Sinar hat das bemerkt, bevor sie die Rekonvaleszenz auslöste.“
„Einem Großmeister?“ Lana Geser nahm wieder Platz. Sie wurde von den Ereignissen wohl doch überrollt.
„Die Großmeister des Ordens werden nicht gewählt. Sie erben ihr Wissen. Stenyards Mutter war Großmeisterin Astarte. Sie und ihr Mann wurden jedoch Opfer eines martianischen Angriffs auf das Flaggschiff des Ordens. Als die Niederlage unausweichlich schien, haben sie ihren Sohn im Alter von nur drei Jahren initiiert. Sie wussten, dass die martianische Ehre die Tötung eines Kindes verbot. Die Angreifer wussten jedoch entweder nicht, wessen Schiff sie kaperten oder sie kannten den Orden oder dessen Bedeutung nicht. Stenyard wurde unter neuem Namen im Sinne der Martian-Fraktion erzogen und entzog sich damit unserer Aufklärung.“
„Und was bedeutet das für uns und die Mission?“
„Ich habe keine Ahnung, Lana. Wir müssen abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Allerdings ist sicher, dass es Stenyard als Person nicht mehr geben wird. Großmeister tragen für gewöhnlich einen Spitznamen oder Codenamen oder Großmeisternamen, wie man es auch nennen will. Seinen kennen wir nicht. Der Orden aber kennt ihn. Momentan können wir nur hoffen, dass es im Sinne des Ordens ist, unsere Mission zu unterstützen.“
„Wann werden wir das wissen, Rat Larson?“
„Die leider etwas ungeschickt ausgelöste Rekonvaleszenz dauert etwa zwei Tage an. Danach benötigt Stenyard einige Tage Übung und Anleitung durch Dr. Sinar, um seine Vita vom ererbten Wissen trennen zu können. Nach den Informationen von Dr. Sinar rechne ich damit, dass er morgen im Laufe des Nachmittags wieder ansprechbar sein wird.
Ich möchte Sie bitten, Lana, sich dann an seinem Krankenbett einzufinden und die Lage zu sondieren. Dr. Sinar bleibt die ganze Zeit in seiner Nähe. Sie hat bereits mit den Reinigungsprozeduren begonnen. Ordenskram. Da habe auch ich keine Ahnung von.“ Larson lächelte.
Lana legte das Gesicht in die Hände, um sich und ihre Gedanken zu sammeln.
„Konnte ich Ihre Fragen beantworten, Lana?“ sagte der Rat.
Sie blickte auf und nickte. Als sich Larson wieder der Tür zuwandte, rief sie ihm nach: „Eins noch, Rat Larson, wer von der ausgewählten Crew gehört noch dazu? Zum Orden?“
Der Rat blickte nur kurz über die Schulter und sagte: „Ich weiß nur von Stenyard und Sinar. Allerdings wird Stenyard sich wahrscheinlich ein, zwei weitere Ordensmitglieder in die Crew holen, was für die Funktion des Schiffes und die Mission unerlässlich ist.“
„Welche Funktion habe ich dann in dieser Mission?“ hakte Geser nach.
Rat Larson drehte sich erneut zu ihr um, kam auf den Tisch zu und stemmte beide Arme auf eine Stuhllehne. Ohne einen Anflug von Heiterkeit in Stimme und Mimik sagte er: „Falls Sie den ‚Homin‘ keinen weiteren Großmeister beschaffen wollen, sind Sie lediglich Beobachter.“
Lana Geser erstarrte. Dies war eine unglaubliche Unverfrorenheit, die sich Rat Larson hier gerade geleistet hatte. Zorn kochte in ihr hoch.Rat Larson hob seine Hände, als ob er sich so vor ihrer Wut schützen könnte, drehte sich wortlos um und verließ den Raum.
„Ich bin doch keine…“ Lanas Wut brach sich Bahn. Zumindest war ihre Teilnahme an der Mission gesichert. Den Großmeister konnte sich dieser aufgeblasene Larson sonst wohin schieben.
Sie entschloss sich, ihrem Schützling in der Krankenstation der „Thanatos“ noch einen Besuch abzustatten, bevor sie sich in ihr kleines Single-Appartement zurückziehen würde.