Eine neue Welt 8

Als er zu sich kam, musste er sich erst einmal orientieren. In seinem Kopf herrschte noch immer ein heftiges Chaos von Erinnerungen, die nicht die seinen waren. Doch die maßgebliche Erinnerung rückte vieles ins rechte Licht. Er hatte Mutter und Vater, die ihr Leben für ihre Aufgabe, ihre Ãœberzeugung gegeben haben. Warum verspürte er keine Rachegefühle gegenüber ihren Mördern. Er war unter ihnen aufgewachsen, hatte den Ehrenkodex von klein auf kennen und schätzen gelernt. Nein, Rache war entweder seinem Naturell fremd oder es geziemte sich nicht für einen Bewahrer des Wissens der Menschheit. Geziemte sich nicht für ein Mitglied des Ordens. Wieder rauschten seine Gedanken. Einem hohen Mitglied des Ordens.Nein, auch das stimmte nicht ganz. Er hörte förmlich die Stimme seiner Mutter, die ihn zurecht wies. ‚Nein, Lionas, Du bist Großmeister des Ordens, ein Oberhaupt der Vierten Fraktion.‘
Lionas. Das klang vertraut. Das war sein Name. Lionas… und wie weiter? Wie lautete sein Familienname? Wieder summte es in seinem Hirn. Großmeister trugen keine Familiennamen. Unantastbarkeit erlangte man nur, wenn man sich nicht familiär band. Der Orden flog seit Jahrhunderten unterhalb des Radars der bekannten Fraktionen. Anders wäre die hohe Aufgabe nicht zu erfüllen.
Langsam setzte er sich auf der Liege auf. Es dauerte einige Augenblicke, bis sein Kreislauf die veränderte Position respektierte und sich das Blut überall verteilte. Wahrlich überall. Er musste völlig ungroßmeisterlich grinsen, als er seine unmotivierte Erregung bemerkte.
Er schwang sich von der Liege, klaubte seine Uniform von einem Hocker, legte sie über seinen rechten Arm und verließ die Krankenstation zielstrebig in Richtung der Offiziersmesse. Im Kapitänsquartier angekommen, warf er sie auf die Pritsche zog sich aus und ging unter die Dusche. Das kühle Wasser belebte seinen Körper. Nackt wie Gott ihn geschaffen hatte durchsuchte er die Schränke, fand jedoch nichts. Die Kleidung hatte offenbar dem Zahn der Zeit nicht widerstanden. Mit leicht angewidertem Blick streifte er seine Unterwäsche wieder über und zog seine Uniform an. Er würde sich seine Kleidung von der „Minerva“ bringen lassen. Sie selbst zu holen, wagte er nicht. Es war nicht ausgeschlossen, dass man ihm auf Shingan noch immer nicht traute. Lionas würde den Doktor oder Konsul Geser bitten, sich darum zu kümmern.
Wo waren eigentlich alle geblieben?

Auf dem Flur vor der Krankenstation traf er auf die überraschte Lana Geser.
„Sie sind schon auf, Captain?“
„Ja, Lana, danke der Nachfrage, es geht mir gut. Seien Sie bitte so gut und nennen Sie mich Lionas. Es braucht keine Titel.“
„Lionas.“ sagte Geser mehr zu sich als zu ihm. „Verstehe. Falls ich aber auf einem Titel bestehen müsste, welcher wäre das dann? Großmeister?“
„Admiral, Lana. Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten?“
Konsul Geser war überrascht, dass sich Lionas eines so hohen Amtes bemächtigte, ließ ihn aber gewähren, da sie es auf seinen Geisteszustand schob. „Ja, ich helfe gern, wenn ich kann.“
„Ich benötige meine Sachen von der ‚Minerva‘, den Schiff Stenyards.“ sagte Lionas.
„Ja, selbstverständlich, ich kümmere mich direkt darum.“ sagte Lana, der es noch immer eigenartig vorkam, dass ihr Gegenüber in der dritten Person von sich sprach.
„Ach, Lana!“
„Ja?“
„Vielleicht bringen Sie gleich die ‚Minerva‘ in den Hangar, dann muss ich Sie nicht wegen jeder Kleinigkeit belästigen.“
Nun hatte sie ihn. „Die Thanatos besitzt keinen Hangar.“
„Lana, bitte tun Sie es einfach.“ Lionas lächelte.
Während Konsul Geser in ihren Kommunikator sprach, deutete Lionas kurz auf sich und dann nach oben, um ihr zu verdeutlichen, dass er die Brücke aufsuchen würde. Sie nickte kurz.

Die Konsole war noch offline. Er wappnete sich vor dem Stich, der aber ausblieb. Stattdessen wurde sie von Energie durchflutet, als er seine Hände auf sie legte. Er schmunzelte. Ein paar Handgriffe und das Jammern der Hydraulik bestätigte ihm, dass sich das Start- und Landesystem ausfuhr.
Mit einem Schiff der Zerberusklasse musste man schon sehr geschickt manövrieren, um es ohne Schrammen und Beschädigung des Landesystems herein zu bringen doch das traute er sich wohl zu.
Konsul Geser stürzte auf die Brücke. „Was geht hier vor? Bitte veranlassen Sie nichts, was unsere Tarnung auffliegen lässt!“
„Keine Sorge, Lana, ich habe lediglich den fehlenden Hangar geöffnet.“ Irgendwie fühlte es sich gut und richtig an, den Taradori ein wenig auf der Nase herum zu tanzen. Das irritierte Gesicht Lanas tat ein Übriges für seine heitere Stimmung.
„Seien Sie bitte so nett, Konsul, und sagen Sie mir Bescheid, wenn mein Schiff im Dock ist? Einparken werde ich es selbst. Ein Zerberus ist doch schon reichlich groß. Soweit ich sehen kann, haben wir Backbord genug Platz. Auf der Steuerbordseite stecken noch zwei kleinere Schiffe. Denen werde ich mich in den nächsten Tagen widmen können.“
„Oh, Sie nehmen also unser Angebot an?“ fragte Geser.
„Liebste Lana, ich, Lionas, Admiral der Hominschen Flotte, nehme unser Schiff wieder in Besitz. Meine Dankbarkeit für Ihr Entgegenkommen bedarf keiner, weiterer Leistungen von Ihrer Seite. Ich spreche Ihnen meinen Dank aus.“
„Admiral …, Lionas, …ich kann, ich darf Ihnen das Schiff nicht überlassen. Wir benötigen es für unsere Mission…“
„Lana, ich möchte Ihnen und den Taradori nicht zu nahe treten, doch Sie haben weder die Fähigkeiten noch die Kompetenzen, dieses Schiff einer vermeintlichen Mission entsprechend zu betreiben.“
Konsul Geser fühlte sich in die Ecke gedrängt, musste etwas unternehmen. Die Zügel drohten ihr zu entgleiten. „Wir aber wissen, wo die ‚Erebos‘ und die ‚Phoibos‘ stecken. Und das finden Sie nicht im Logbuch dieses Schiffes.“
„Was bringt Sie zu dieser Annahme?“ sagte Lionas ruhig.
„Die ‚Thanatos‘ ist über Jahrhunderte in freien Raum getrieben. Nach unserem Wissen gelangte sie nur durch Zufall in diese Galaxis.“
„Aha.“
„Wir gehen davon aus, dass sie auf ein Wurmloch zusteuerte. Vermutlich wurden alle Systeme deaktiviert, um jenes beim Durchtritt nicht zu destabilisieren. Wir wissen nicht, warum die Crew der Ansicht war, dass dies nötig sei, bevor sie alle starben…“
„Konsul Geser, warum erzählen Sie mir das? Was bringt Sie zu der Annahme, dass mich dies interessiert.“
„Das Wurmloch ist noch da. Nach all den Jahren noch immer stabil. Die Thanatos trieb diesseits des Ereignishorizonts und wir, die Taradori wissen, wo dieses Wurmloch zu finden ist. Aber die Zeit drängt. Das ist unsere Mission.“
Lionas sah den Konsul ruhig an und rieb sich das Kinn. Bartstoppeln knirschten. Brin Stenyard hatte diesen Körper wirklich arg vernachlässigt. Das würde ein Ende haben. Sollten die Taradori vorhaben, was immer sie wollten. Er hatte ein Fitnessprogramm zu bewältigen.
„Liebste Lana, zuerst hätte ich gern die ‚Minerva‘ im Hangar, möchte mich frisch machen, neu einkleiden und ein paar Kilometer auf dem Laufband herunter reißen. Sollten Sie also im Moment keine Anliegen der ‚Vierten Fraktion‘ zu erörtern haben, wäre ich Ihnen sehr verbunden, meine Angelegenheiten geklärt zu wissen.“
„Lionas, bitte, das Schiff…“
„Lana, die Thanatos ist Eigentum der Homin, der Vierten Fraktion. Sie beherbergt hervorragende Systeme und Technologien aber ich werde sie ganz gewiss nicht alleine fliegen können. Die Thanatos benötigt eine Mannschaft. Sollten Sie sich also Sorgen machen, ich könnte heimlich mit dem Schiff verschwinden, dann dürfen Sie diese getrost über Bord werfen. Ich habe jetzt eine Verabredung mit meinem Personal Trainer. Wir sehen uns.“ Lionas deutete eine Verbeugung an und verließ die Brücke über die Treppe.
Als Lana Geser von der Offiziersmesse in den Flur trat, hörte sie aus einem der benachbarten Räume wüste Beschimpfung, die eher an einen Drill-Sergeant als an einen Personal Trainer erinnerten. Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und erblickte einen Muskelprotz, der Lionas sinnbildlich in „seinen schlaffen, faltigen Arsch“ trat. Der Admiral schaffte sich laut lachend auf dem Laufband. Lana kannte den Mann nicht und sie kannte definitiv alle, die die Sicherheitsfreigabe für dieses Schiff besaßen. So musste es sich wohl oder übel um ein Hologramm handeln. Einmal mehr beeindruckt von der in Vergessenheit geratenen Technologie zog sie die Tür heran und machte sich auf den Weg, Rat Larson ihre Freizügigkeit in der Preisgabe geheimer Informationen zu beichten.