Madeleine Lemmont 1

Man verlor so schnell sein Gefühl für Raum und Zeit, wenn man sich andauernd auf Raumstationen oder im All herumtrieb. Die ewige Dunkelheit, mehrere Sonnenauf- und -untergänge innerhalb der üblichen Wachspanne. Das zehrte an den Nerven. Viele sagten, dass man sich daran gewöhne. Madeleine mochte das so wohl nicht unterschreiben. Vielleicht genügten aber auch drei Einheitsjahre dafür nicht.
Aus ihren ererbten Erinnerungen konnte sie nicht zehren, da ihre Vorfahren und ihre vorangegangenen Inkarnationen sich bisher nicht der Raumfahrt verschrieben hatten. Doch dies schien einfach zu verlockend. Anfangs.

Sie streckte sich auf der Pritsche. Ihre Muskeln waren etwas verspannt. Vielleicht schwanden sie auch einfach zu schnell. Trotz des regelmäßigen Trainings.
Sich auf den Rücken drehend legte sie ihre Arme in den Nacken und blickte zur metallisch glänzenden Decke auf. Doch sie nahm die nicht wahr. Ihre Gedanken glitten erneut davon.

Vor über 100 Jahren hatten ihre Urgroßeltern Intaki Prime verlassen, da es dort für eine Familie schlicht nicht mehr sicher genug war.
Alentene III war aber verglichen mit Intaki Prime schon fast ein Eisklumpen. Das wusste sie anschaulich, da ihr die Erinnerungen einer Frau übertragen wurden, die vor nunmehr 36 Einheitsjahren im Sterben gelegen haben musste. Jene hatte die tropische Gluthölle von Intaki Prime noch selbst gekannt, bevor auch sie nach Alentene III gelangte.
Madeleine hatte sich nie mit den Details dieser Übertragung befasst und wollte diese auch nicht kennen. Wohl aber empfand sie ein wohlwollendes Gefühl für diese Tradition, die Wissen und Erinnerungen vergangener Generationen bewahrte. Wahrscheinlich lag darin auch die Quelle der pazifistischen Grundeinstellung vieler wiedergeborener Intaki.

Die geografische Nähe Alentenes zu Cistuvaert war wohl der offensichtlichste Grund, warum sie sich seinerzeit in die Akademie des „Center for Advanced Studies“ eingeschrieben hatte. Dort hatte sie eine Kommilitonin namens Venus LeMercantes kennengelernt. Sie teilten unter Anderem ihre Abstammung als wiedergeborene Intaki. Man konnte sich nicht mit jedem über derlei Erfahrungen austauschen. Schon gar nicht den angeberischen, ethnischen Gallente an dieser Akademie.
Venus hatte Wirtschaft belegt und gründete die Divide et Impera unmittelbar nach ihrem Abschluss. Madeleine verblieb noch zwei weitere Semester auf der Akademie und verschrieb sich danach als Mitarbeiter der DEIDE Corp. zwischenzeitlich planetarer Wirtschaft. Diese erwies sich jedoch letztlich als wenig einträglich.

Venus erkrankte an einer schnell tödlich verlaufenden, ererbten Nervenkrankheit. Diese wirkte sich auch auf ihre Klone aus, die schon im Inkubationstank starben. Nachdem sie Madeleine die Führung der DEIDE übertragen hatte, bestieg sie ihre Kapsel und machte sich mit einem Shuttle auf den Weg zum EvE Gate. Sie flog ohne Rückendeckung eines Klons in die unsicheren Gebiete New Edens. Madeleine sah sie nie wieder.
Die Zeit verging, das Unternehmen wuchs zusehends. Doch machte es sie nicht glücklich. Die ewige Dunkelheit… Depressionen. An manchen Tagen vermochte sie sich nicht aufzuraffen und ihr Quartier zu verlassen oder ihren administrativen Aufgaben nachzugehen.
Aus organisatorischen Gründen musste das Hauptquartier der DEIDE Corp. nach Paara verlegt werden. Mitten im Caldari Raum. Ausgerechnet.

Madeleine hatte nichts gegen die Caldari an sich. Die Erinnerungen ihrer Vorgänger wiesen keinerlei Konflikte mit Caldari auf. Wohl aber mit den großmäuligen Gallente. Aber auf eines verstanden sich die Gallente halt. Sie verbanden Schönheit mit Komfort und Zweckmäßigkeit. Das ging den Caldari leider scheinbar völlig ab.
Ihr Quartier war zweckmäßig. Mehr aber auch nicht. Nackte, bläulich schimmernde Metallwände. Alles wirkte kalt und unnahbar. Sie vermisste ihr Quartier an der Akademie in Clellinon. Sie vermisste die wärmende, riesige rote Sonne und den einsamen Mond von Alentene III. Das war kein Vergleich zum von Monden wimmelnden Himmel Intaki Primes. Aber es hatte etwas unglaublich Beruhigendes.
Paara war und ist ein Durchreisesystem. Nur wenige verweilen hier. Die bewohnbaren Welten waren jedoch nichts für Madeleine. Sie waren heiß, wiesen extreme Wetterphänomene auf und waren Welten hoher Schwerkraft. Sie lebte hier also ständig auf Station. In scheinbar ewiger Dunkelheit…

Sie setzte sich langsam auf und schwang die Beine von der Pritsche. So saß sie eine Weile bis ihr Blut vernünftig zirkulierte. Auch dies schien von Tag zu Tag oder von Wachperiode zu Wachperiode immer länger zu dauern. Die geringe Schwerkraft auf der Station machte ihr zu schaffen.
Mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging sie auf die enge Sanitärkammer zu. An Bord von Raumstationen konnte man keinen Platz verschenken. Das war ihr bewusst. Aber mussten sie deswegen so unheimlich trist und karg aussehen? Sie stützte sich auf das Waschbecken und wendete das Gesicht vor dem Spiegel, während sie ihre tief liegenden, dunkel geränderten Augen begutachtete. All diese Hässlichkeit würde in wenigen Minuten unter einem kunstvollen Makeup verschwunden sein. Doch lange konnte sie dies sicher nicht mehr vor ihren Angestellten verheimlichen. Es brächte sie früher oder später um.

Viele Aufgaben ließen sich auch problemlos aus der Ferne bewerkstelligen. Sie würde wohl zumindest eine zeitlang in das Büro nach Luminaire 7-1 wechseln. Sie musste einfach mal wieder eine gallentische Einrichtung um sich haben. Außerdem konnte sie auf Caldari Prime, der auch als Luminaire VII bekannt war, endlich mal wieder festen Boden unter ihren Füßen spüren.
Diese Gedanken erhellten ihr Gemüt. Mit beschwingtem Schritt lief sie zur Kombüse und bereitete sich ein schnelles Frühstück zu, dass sie genussvoll verzehrte. Dass noch eine Menge Büroarbeit auf sie wartete, störte sie plötzlich gar nicht mehr. Irgendwie freute sie sich sogar darauf. War es doch nur der Countdown für ihren Start. Licht statt Dunkelheit. Sonnenauf- und -untergänge, wenn sie tatsächlich an der Reihe waren. Einfach. Wundervoll.