Pearl Canopus 1

Pearl saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden seines Quartiers. Seine Arme lagen locker auf seinen Oberschenkeln, die Hände nach oben gewandt. Er fühlte imaginäre Sonne auf seinem Gesicht. In seiner Meditation ging es ihm um den Einklang von Konzentration und Entspannung.
Die recht typischen Visionen eines Stargazer, auch als Astrologen oder Seher umschrieben, empfand er eher als verstörend und lästig. Sie boten ihm wirre Informationen, die er nur selten zu deuten verstand. Außerdem war seine Suche nach dem Verständnis des Universums und absolutem Wissen seit langer Zeit ins Stocken geraten. Zu viele Verpflichtungen lasteten auf seinen Schultern. Während er sich zu entspannen versuchte, wanderten seine Gedanken dennoch rastlos umher.

Das Leben als Kapselpilot hat ihm die Chance gegeben, die Suche nach Wissen und Erkenntnis im All voranzutreiben, ohne ernsthaft um sein Leben und damit sein Werk fürchten zu müssen. Diese Sicherheit bot ein verdammt gutes Gefühl.
Seinem Vater, Friede seiner Seele, gefiel dieser Gedanke überhaupt nicht. Er verbrachte einen großen Teil seiner wenigen, freien Zeit in Meditation. Ihm ging es allein um den inneren Frieden und die Erleuchtung. Pearl respektierte dies selbstverständlich. War es doch das Dogma des Ordens, dem sein Vater zeit seines Lebens angehörte. Er entstammte einer langen Ahnenreihe von Astrologen. Dieser Begriff täuscht allerdings über den spirituellen Hintergrund seiner Blutlinie hinweg.
Sie führten häufiger intensive Gespräche, nachdem Pearl seine Volljährigkeit erreicht und sich stattdessen dem „Pfad des allumfassenden Wissens“ angeschlossen hatte. Letztlich respektierte sein Vater jedoch auch seine Entscheidung. Männliche Achura waren für ihren Pragmatismus bekannt. Es war seinem Vater am Ende des Tages wichtiger, dass Pearl den spirituellen Auftrag und Weg seines Volkes lebte, wenngleich die Methoden des Ordens nicht seine ungeteilte Zustimmung fanden.
Der „Pfad des allumfassenden Wissens“ oder besser dessen Sensei predigte die Ãœberlegenheit des Wissens über den Weg zur Erkenntnis. Im übertragenen Sinne heißt dies in etwa: „Feinden des Volkes sowie des Wissens und der Erkenntnis bringt man keinerlei Mitleid entgegen.“
Gelebt wird dies meist defensiv. Gib nicht den ersten Schuss ab aber zerstöre was sich dir hartnäckig in den Weg stellt.

Pearls Mutter hatte sich mit der Lebensweise der Achura arrangiert und verfügte über ein tiefes Verständnis für deren Spiritualität. Sie war Intaki und die Tochter eines Offiziers der Mordu’s Legion. Sie wurde viel zu früh durch Gurista Schergen aus dem Leben gerissen, die einen Hilfs-Konvoi im Niedrigsicherheitsgebiet aufbrachten und eben keine Gefangenen machten. Er war damals gerade einmal elf oder zwölf Jahre alt. Vielleicht mochte dies ein wenig zu Pearls Radikalisierung beigetragen haben.
Von ihr, so erinnerte er sich, hatte er wohl den Sinn für das Schöne und nicht zuletzt seine roten Haare geerbt. Naja zumindest die, die ihm geblieben waren. Er musste unwillkürlich schmunzeln.

Die Achura waren stets ein stolzes, kultiviertes und zurückhaltendes Volk. Nachdem sie von Saisio III evakuiert werden mussten, versuchten die Caldari sie recht schnell zu assimilieren. Pearls Ahnen haben sich für den Erhalt ihrer Traditionen und gegen eine Vereinnahmung durch den Caldari State entschieden. Doch letztlich wurden sie von der Wirklichkeit da draußen eingeholt. Wer nicht für eine der Caldari Mega-Corps arbeitete, galt quasi als vogelfrei und genoss im Grunde keinen Schutz. Polizei und Navy hin oder her. Piraten nutzten dies schamlos aus. Sie plünderten und brandschatzten.
Die Ära der Kapselpiloten ließ unter Anderem den „Pfad des allumfassenden Wissens“ entstehen, der die neuen Möglichkeiten und den bestehenden Glauben in Einklang brachte. Viele Achura traten in den Dienst von Corporations und begannen brav Steuern zu zahlen.

Pearl begann eine Ausbildung zum Kapselpiloten in der wirtschaftlichen Fakultät der „Schule des angewandten Wissens“. Dies war letztlich auch dem Umstand geschuldet, dass seine Familie ein Leben an der Armutsgrenze führte. Er begann im Bergbau. Er verdingte sich bei Agenten. Er kaufte Erze an und verkaufte daraus gewonnene Mineralien an großen Handelsposten. Nicht alles was er anfasste wurde zu Gold. Doch er konnte erstaunlich gut davon leben. Und sterben und dann wieder leben…
Mal verlor man, mal gewann man. Man sammelte zweifellos Erfahrung. Aber eben kein Wissen…

Als er sich in der Liberavis Corp anschloss hoffte er, dass sich aus der Gemeinschaft neue Gelegenheiten ergäben. Doch es folgten nurmehr weitere Pflichten und Beschränkungen. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Es konnte nur eine logische Konsequenz geben.

Ende März YC115 schloss er sich der DEIDE Corp an. Ihre Geschäftsführerin, die hinreißende und charismatische Madeleine Lemmont, inspirierte ihn. Vielleicht war er auch ein wenig verliebt. Warum auch nicht. War sie doch, wie seine Mutter auch, eine attraktive Intaki. Doch es lag ihm nicht, ihr gegenüber seine Gefühle offen zu zeigen. Wahrscheinlich war er ohnehin viel zu alt für sie. Sie waren einander sympathisch und man konnte zumindest von einem freundschaftlichen, vertrauten Verhältnis sprechen. Dies mochte wohl auch der Grund für seine recht frühe Ernennung zum Direktor gewesen sein.

Trotz des verantwortungsvollen Amtes hatte er nun erheblich mehr Raum zur Ausübung seiner Meditationen und zum Leben seines Glaubens.
So saß er nun hier mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden seines Quartiers und versuchte noch immer Konzentration und Entspannung in Einklang zu bringen. Nach einigen, tiefen Atemzügen nahm er wieder die imaginäre Sonne auf seinem Gesicht wahr.